Er schüttelt den Kopf und wirft sich die Jacke über. Das Telefon klingelt erneut, und diesmal ist er schneller als ich.
„Was gibt’s denn noch?“ murmelt er in die Sprechmuschel. Dann verändert sich sein Gesicht, er runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen und hält den Hörer vom Gesicht weg, als habe er sich das Ohr verbrannt.
„Ja, da sind Sie richtig verbunden. Hier ist sie.“, sagt er auf Deutsch und hält mir den Hörer entgegen. Er beobachtet mich scharf, während ich das Gespräch übernehme. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen.
2
„Regine Bonewitz“, melde ich mich. „Mit wem spreche ich?“
Es ist lange her, seit ich den letzten Anruf aus Deutschland bekommen habe. Wer sollte mich auch anrufen? Mein Leben ist hier, versteckt in Norfolk, seit vielen Jahren schon. Ich habe alle Brücken abgebrochen, wie man so sagt. Oder andere haben sie für mich abgebrochen. Das schmerzt schon lange nicht mehr. Das hier ist meine Heimat geworden. Aber obwohl ich mich kaum noch als Fremde fühle und mein Englisch fließend ist, verraten mich immer wieder kleine Betonungsfehler, ein Akzent oder ein Fehler in der Grammatik. Die Engländer sind äußerst diskret, wenn es um Fragen nach der Herkunft geht.
„Sie stammen sicher nicht aus dieser Gegend“, tasten sie sich vor, statt auf deutsche Art direkt zu fragen: „Woher kommen Sie?“ Das gilt als plump, unhöflich, möglicherweise sogar rassistisch.
Oft antworten sie mit Komplimenten oder Reiseerinnerungen, wenn sie erfahren, dass ich Deutsche bin. Zuverlässige Autos und Elektrogeräte, Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, die aufstrebende Wirtschaft, die Schiffsreise auf dem Rhein, oft sogar ein deutscher Vorfahre. Ich habe mich immer geschmeichelt gefühlt, besonders weil ich anfangs befürchtet hatte, dass die Briten mit meinem Land eher die Schrecken der jüngeren Geschichte verbinden würden.
„Ich bin die Mitbewohnerin Ihrer Nichte Julia.“ Die Frauenstimme klingt kratzig und rau, erinnert mich an deftige bayerische Küche. Ich tausche einen Blick mit Joe, der fragend die Brauen anhebt, und gebe ihm mit erhobener Hand zu verstehen, einen Moment zu warten, bevor er geht.
„Karen Glashauser.“ Sie hustet kurz. „Entschuldigung, dass ich so einfach bei Ihnen anrufe, aber leider kann ich Ihre Schwester, also Julias Mutter, nicht erreichen.“
Ich schweige angespannt. Joe tritt zu mir und versucht zu lauschen. Sein Atem streift mein Gesicht.
„Hallo?“ tönt es aus dem Hörer. „Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, um was es geht.“
Bewusst abweisend klingt meine Stimme. Was fällt ihr ein, hier einzudringen, in meine Schutzhöhle in einem vergessenen Winkel Englands?
Sie verfällt plötzlich in stärkeres Bayerisch, und ich merke auch ihr die Spannung an.
„Etwas Furchtbares ist passiert.“ Sie macht eine Pause und atmet tief.
„Gestern früh. Man hat Julia gefunden. Julia … sie ist tot. Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt und ist erfroren, an der Isar. Ein Spaziergänger sie gefunden.“
Es ist, als habe mir jemand einen Faustschlag in den Magen verpasst. Ich versuche, dem Gehörten einen Sinn zu geben. Mein Herz pocht im Hals, und ich sinke auf einen Stuhl. Joe setzt sich und rückt an mich heran. Er versucht zu lauschen und legt einen Arm um meine Schultern, so schwer, dass es mich niederdrückt, ohne dass ich mich zur Wehr setzen kann.
Die Anruferin ist verstummt, nur unterdrückte Schluchzer dringen aus dem Hörer. Mit offenen Mund schüttele ich den Kopf und blicke Joe an. Der hat noch nichts verstanden, aber mein Entsetzen macht ihn ungeduldig, mehr zu erfahren. Unfähig, den Lautsprecher anzuschalten, umkrampfe ich den Hörer.
„Julia“, flüstere ich ihm zu. Joes Gesicht wird aschfahl. Ich halte den Hörer vom Ohr fort, als könnte das die Wucht weiterer Worte dämpfen. Das Schluchzen am anderen Ende verebbt.
„Sind Sie sicher, dass es sich um Julia handelt?“, krächze ich mit fremd klingender Stimme. Der Raum schwankt. Ich reibe mir das Gesicht, um einen klareren Kopf zu bekommen. Joes Wärme und sein vertrauter Geruch sind mein Anker, um nicht die Fassung zu verlieren.
„Sie hatte ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis dabei. Deshalb ist die Polizei dann zu mir gekommen. Ich musste sie gestern identifizieren.“ Sie spricht so überstürzt, dass ich sie kaum verstehe. „Eindeutig Selbstmord, meint die Polizei.“
Meine Schwester Mona, Julias Mutter, hat seit ihrer Jugend an Depressionen gelitten. Ich habe immer schon befürchtet, dass es sich auf Julia vererben könnte.
„Aber … ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat“, fährt die Frau fort. Sie klingt aufgeregt, fast ein wenig wütend.
„Es ging ihr gut, da bin ich mir sicher. Sie wollte am übernächsten Wochenende sogar mit Freunden in Skiurlaub fahren. Julia war Feuer und Flamme. Ich bin vor drei Tagen noch mit ihr einkaufen gegangen. Sie hat sich komplett neu eingedeckt, neue Skier, neue Schuhe, ein richtig cooler Skianzug …
Klingt das für Sie etwa nach Selbstmordgedanken? Nein, ich glaube ganz bestimmt, dass jemand sie getötet hat.“
Sie schweigt. In meinem Kopf wirbelt Schneegestöber. Joe ist aufgestanden und gestikuliert heftig, ich solle ihn endlich in das Geschehene einweihen. Mich hat eine Art Lähmung überfallen, ich starre ihn nur an.
„Ich habe vorhin eine Email an Ihr Bed and Breakfast mit dem Zeitungsausschnitt aus dem Münchner Tageblatt von heute früh zugesandt. In dem sie über Julias Tod berichten. Sie … Sie sind meine einzige Hoffnung.“
„Hoffnung? Für was?“ Ich runzele die Stirn. Viel werde ich jetzt nicht mehr aufnehmen können. Was will diese Frau von mir? Warum ruft sie ausgerechnet mich an?
„Woher … haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?“ Im selben Moment fällt es mir ein. Natürlich. Anonymität oder Privatsphäre sind im Zeitalter von Google und Facebook Fremdwörter geworden. Wahrscheinlich erscheint mein Name bei den Suchergebnissen gleich unter mehreren Rubriken. Als Besitzerin eines Bed & Breakfasts in Norfolk, als Editorin der Bücher der Botanikerin Mira Goldsmith. Ich bin auch als freiberufliche Übersetzerin in einigen Foren eingetragen. Hätte ich doch bloß meinen Namen geändert. In England ist das gar nicht so schwierig. Leider habe ich nie geheiratet, was ebenfalls dieses Problem gelöst hätte.
Mona Winterfels. Meiner Schwester ist das gelungen, sie hat sich einen schönen Namen ergattert. Prompt erscheint ihr hinreißendes Gesicht vor mir, ihr verführerischer Schmollmund, und ich erinnere mich an ihre rauchige Stimme. Eine Hitzewelle überflutet mich und überzieht meinen Körper mit einem Schweißfilm.
„Mit Google kein Problem“, bestätigt die Frau. Sie klingt auf einmal sachlich und energisch. „Sie sind ja nicht gerade schwer zu finden. Im Gegensatz zu Julias Mutter oder Vater. Der ist wie vom Erdboden verschluckt, und die Mutter verkriecht sich in einem buddhistischen Kloster in Frankreich. Ist im Moment unansprechbar, heißt es.“
Mona ist in einem Kloster? Beinahe muss ich lachen. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Eine verführerischere Nonne als sie kann ich mir kaum vorstellen. Joe deutet ungeduldig auf die Wanduhr und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er erhebt sich, schlingt sich den verfilzten Schal um den Hals und öffnet die Tür zur Vorhalle. Ein scharfer Luftzug schießt von draußen herein. Ich bedecke mit der Hand den Lautsprecher.
„Joe, warte bitte. Julia… Angeblich Selbstmord. Sie ist tot“, flüstere ich ihm zu. Tränen laufen mir über die Wangen. Er starrt mich zuerst einen Moment lang ungläubig an, schließt wieder die Tür und beginnt, in der Küche auf und ab zu laufen. Die Hunde haben sich unter dem Tisch verkrochen; sie spüren die unerträgliche Spannung im Raum.
„Hallo? Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich, unfähig zu antworten, weil mein Kehlkopf sich zusammenpresst.
„Ich