„Hör doch auf zu weinen, Sora. Es tut dir nicht gut und dem Baby auch nicht. Und mir machst du es nur noch schwerer. Schau mal, vielleicht werde ich ja von einer dieser Fabriken gekauft, wie Lanzo vor zwei Jahren. Die bezahlen zwar nicht so viel, aber Lanzo darf dafür jeden Monat einen ganzen Tag nach Hause.“
Morons Vater schnaubte verächtlich im Hintergrund.
„Oder ich komme in diesen Sonderverkauf, von dem der Älteste gesprochen hat, und ihr werdet dafür in die E-Kaste aufgenommen. Überleg doch! Zusätzlich zu dem Geld, mit dem unsere Schulden bezahlt werden! Dann brauche ich mir gewiss euretwegen keine Sorgen mehr zu machen. Dann wird alles so viel besser sein als jetzt. Nie wieder hungern! Denk an die Kinder, Sora. Komm, sei friedlich, lass mich gehen. Soll es denn dein böses Gesicht sein, das ich als Letztes von hier mitnehme?“
Sora versuchte ein Lächeln, das nur umso trauriger wirkte. Ihre letzte Hoffnung war zerbrochen, als man Moron tatsächlich einen Termin für ein Verkaufsgespräch zuwies. Sollte er doch stur von einem Wiedersehen faseln, sie glaubte keinen Augenblick daran. Auch nicht an das sorgenfreie Leben, das er versprach. Wie sollte das möglich sein, da er sie doch allein ließ?
Moron riss sich mit einiger Mühe von seiner Frau los, die zusammen mit Calla auf dem Boden kauerte und kein Auge von ihm ließ. Sie bot ihre ganze Kraft auf, um sich jede Einzelheit seiner Gestalt und jedes Detail des geliebten Gesichts für alle Ewigkeit einzuprägen.
Er wirkte älter, als seine 24 Jahre angaben, müde und niedergeschlagen. Ihr konnte er doch nichts vormachen! Dennoch, für sie war er immer noch der unverschämt gut aussehende, große Mann mit den so auffallend unmännlich wirkenden langen Wimpern, in den sie sich verliebt hatte. Sie lächelte kurz, als ihr Blick auf die Stelle über dem echten Ohr fiel, wo sie aus Versehen viel zu viel von seinem störrischen braunen Haar abgeschnitten hatte.
„Wenn du so weiter machst, werde ich aussehen wie ein geschorenes Schaf“, hatte er gesagt, und beide brachen in ein herzhaftes Lachen aus. War das wirklich erst gestern gewesen? Heute schossen ihr wegen dieser kleinen Stelle an seinem Kopf erneut in Tränen in die Augen. Sora schloss die Lider. Den Rest seines Körpers sah sie so besser.
Moron ging inzwischen zögernd auf seinen Vater zu. Das schlechte Gewissen würgte die Worte ab, die er ihm zum Abschied hatte sagen wollen. Aber der alte Mann verstand ihn auch so.
„Es ist schon gut, mein Junge“, sagte er tröstend, als er ihn ein letztes Mal umarmte. „Ich komme klar.“
Moron wusste, dass es nicht so war, dass es gar nicht so sein konnte. Für kein Geld der Welt würden die Oberen der E-Kaste einen alten, verbrauchten Mann aufnehmen, der ihnen nicht mehr von Nutzen sein konnte. Wenn die Bestechung für Sora und die Kinder klappte, würde sein Vater allein hier in dieser Hütte sterben. Das war das Schlimmste dabei: Er konnte sie nicht alle retten.
Bevor ihm die Tränen über das Gesicht liefen, wandte er sich abrupt ab und ging auf Sora zu. Sie blieb in ihrer Ecke hocken, als Moron sie und ihr Kind zum Abschied auf die Stirn küsste. Sie blieb auch dort hocken, als er den vierstündigen Fußmarsch in das Stadtzentrum antrat. Nach einigen Metern drehte er sich hoffnungsvoll nach ihr um, aber sie stand nicht vor der Hütte, um ihm nachzusehen. Den Stich im Herzen, den er in diesem Augenblick fühlte, nahm er ihr übel. Mit einem Ruck machte er kehrt und stapfte enttäuscht davon.
Er trug nur ein kleines Stück Holz bei sich, das er aus dem Tisch des Ältesten herausgeschlagen hatte. Da es schon seit Jahren kein Papier mehr gab, hatte der die Adresse, an der Moron sich melden sollte, sorgfältig in das Holz geritzt. Moron hoffte, dass sie richtig abgeschrieben worden war, denn es war nicht leicht gewesen, die Schriftzeichen des elektronischen Übermittlers an einer Wand zu entziffern, die schon seit Jahrzehnten keinen Putz mehr kannte. Der Signaltransmitter war zudem instabil, ständig drohte die Nachricht zusammenbrechen. Für F-Kastenmitglieder gab es jedoch keine andere Möglichkeit, an die Mitteilung des Anwalts aus der Stadt zu kommen. Das Steinhaus des Dorfältesten war weit und breit das einzige Gebäude, das überhaupt ab und zu Strom und zudem die Ausrüstung für die Kommunikationstechnik hatte, auch wenn sie alt und unzulänglich war. Früher, vor sehr langer Zeit, musste es einmal anders gewesen sein. Damals gab es ein dichtes Netz an Sendestationen, so erzählte man sich. Vereinzelt fand man, verteilt über die ganze Ebene, noch immer hohe Stahlträger, die einst Strommasten gewesen sein sollten.
Der Älteste hatte ihm den Text an der Wand vorgelesen, weil Moron nicht einmal seinen eigenen Namen lesen und schreiben konnte. Aber selbst der alte Mann war nicht im Stande gewesen, ihm die Bedeutung einiger Stellen des Schreibens zu erklären. Eine merkwürdige Sprache war das! Niemand in ihrem Dorf sprach so, mit solchen Wörtern und so endlos langen Sätzen. Der Älteste schärfte ihm fest ein, den Anwalt unbedingt nach allen Passagen zu fragen, die Moron nicht verstanden hatte.
Bei der Erinnerung daran tastete er nach dem kostbaren Holzstückchen in seiner Jackentasche. Spürte er da nicht noch etwas? Erstaunt zog er einen gut daumengroßen Stein heraus, schmeichelnd glatt und strahlend weiß mit einem tiefroten Streifen. So etwas kam in ihrer Umgebung gar nicht vor, aber nicht nur deshalb erkannte der Mann ihn sofort wieder. Es war der Spielstein seiner kleinen Tochter. Mit ihm hatte sie als Baby das Greifen geübt, auf ihm hatte sie die Schmerzen beim Zahnen zu bekämpfen versucht und an ihm lutschte sie begierig, wenn sie hungrig im Bett lag. Es brach ihm das Herz, dass sich dieses kleine Kind davon getrennt haben mochte, damit sein Vater nicht allein sein musste. Es fehlte nicht viel und Moron wäre umgekehrt. Aber er tat es nicht. Das Bild seiner Tochter vor Augen, ging er entschlossener weiter denn je.
2
Der Trubel der Stadt machte ihm Angst. Menschen über Menschen! Und alle bewegten sich erschreckend furchtlos zwischen den unzähligen großen und kleinen Luftkissenwagen, Hoverboards der Guardians und Pferdekarren, die Kisten und Fässer transportierten. Jeder fuhr oder lief, wie und wo es ihm beliebte. Man musste nur darauf achten, den Fahrzeugen in den Kennfarben der höheren Kasten stets den Vorrang zu lassen. Falls es zu einem Unfall kam, trug immer der Beteiligte aus der unteren Kaste die Schuld, weil er den Vorrang des Kastenhöheren missachtet hatte. Spielte sich der Unfall zwischen zwei Gleichberechtigten ab, so hatten sie sich die Verantwortung zu teilen.
Moron hätte jeder Maus Vorrang eingeräumt. Furchtsam drückte er sich dicht an den Gebäuden entlang. Diese Häuser, ausnahmslos aus Stein und Glas und einem schimmernden Material gebaut, das er gar nicht kannte, wuchsen links und rechts der breiten Straßen scheinbar bis in den Himmel. Alle paar Meter gab es Geschäfte oder fliegende Händler, bei denen man sich Nahrungsmittel und sonstige Dinge des täglichen Lebens direkt aus einem 3D-Drucker herstellen lassen konnte. Ein Fluch für alle Menschen wie ihn, nicht nur in Morons Augen. Niemand konnte zählen, wie viele davon ins Elend gestürzt und im schlimmsten Fall sogar aus ihrer Kaste geworfen worden waren, weil ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert war.
Ein wenig abseits von den großen, glitzernden Straßen zeigte die Stadt ein anderes Gesicht. Die Straßen wurden schmaler, dunkler und schmutziger. Hier rannten sogar Ratten durch eingestürzte, nur sehr langsam verrottende Gebäude, die trotz der langen Zeit noch immer an die furchtbaren europaweiten Zerstörungen aus den Großen Verteilungskriegen erinnerten.
Mit furchtsamem Respekt blieb Moron jedes Mal dicht an die Mauern gedrückt abwartend stehen, wenn eine der unzähligen Doppelpatrouillen der Guardians vorbeiging und ihn demonstrativ musterte. Jeder im Land wusste, sie waren kompromisslos und hart und setzten die zahlreichen Sonderrechte in der Erfüllung ihres Auftrags, Gesetz und Ordnung inhalb der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, rigoros ein.
Moron hätte es niemals gewagt, einen von ihnen nach dem Weg zu fragen. Es kostete ihn schon eine Menge Überwindung, überhaupt fremde Menschen anzusprechen. Unter den entrüsteten oder angewiderten Blicken der Stadtbewohner begann er sich wegen seiner abgetragenen, mehrfach geflickten Kleidung und der nackten Füße