Möglicherweise wäre sonst unsere gesamte Arbeit der letzten Jahre umsonst gewesen. Ich ließ dem Pferd einen Moment Gelegenheit zu sich selbst zu finden, damit es sich langsam beruhigen konnte. Währenddessen hielt ich Rücksprache mit Ernesto. Wir waren uns einig, dass ich es nochmal versuchen musste. Ernesto war die Lust, selbst aufzusteigen natürlich vergangen. Dennoch war er der Meinung, dass es für mich viel zu gefährlich wäre. Da ich an Multipler Sklerose litt, fiel es mir mittlerweile immer schwerer bestimmte Tätigkeiten auszuführen, gerade was den sportlichen Bereich anbelangte. Das ich überhaupt so agil und rasch herunter gesprungen war, lag wohl einzig und allein an dem Überlebensinstinkt eines Menschen, der einem plötzlich körperliche Fähigkeiten gab, die man sonst nie hätte.
Dennoch, ich musste es versuchen, es blieb kein anderer Weg. Es war Ernesto nicht Recht, ich sah ihm an, dass er mehr als besorgt war. Er bot sich an, es selber zu versuchen. Aber auch hier leitete mich mein Instinkt. Ich wusste, dass er dafür noch nicht genug Erfahrung hatte und wollte nicht riskieren, dass ihm dann etwas zustoßen würde. So beruhigte ich Ernesto und meinte, dass ich lediglich versuchen würde, den Aufsteigprozess noch einmal zu wiederholen. Ernesto brummelte vor sich hin, dass er es nicht richtig fand, ließ mich aber dann doch gewähren.
So näherte ich mich also dem immer noch aufgebrachten Templao, redete ihm leise gut zu. Wir hatten Glück gehabt, dass die Zügel wie durch ein Wunder nicht über seinen Kopf geflogen waren bei seinen wilden Bocksprüngen. Er hätte sich ernsthaft verletzen können. Ich griff nach den Zügeln. Dabei zuckte er zusammen vor Schreck. Anscheinend würde er noch eine Weile brauchen bis sein Nervensystem wieder auf „normal“ umschaltet. So ließ ich die Zügel wieder los und redete leise mit ihm. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor solange dauerte es, bis seine Atmung ruhiger wurde, sich die Flanken nicht mehr so schnell hoben und senkten. Geduldig stand ich die ganze Zeit neben ihm.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich die Anspannung, die in Ernesto vorging, während er zusah. Dann kam der Moment, wo ich erneut nach den Zügeln griff. Mit Bedacht wohlgemerkt. Ich regte Templao dazu an, neben mir her zu laufen, mit ruhigen, entspannenden Schritten schritt ich also vorwärts, und Templao folgte mir. Ich musste die Zügel dabei nicht mal festhalten sondern konnte meine Hand von ihnen lösen. So stiefelte ich eine ganze Weile mit ihm neben mir über den Reitplatz, erzählte ihm Geschichten, sang ein ruhiges Lied und das Pferd entspannte sich zusehends.
Als ich das Gefühl hatte, dass er jetzt für einen neuen Versuch bereit war, probierte ich mein Glück. Es endete in einem einzigen Desaster: Schon das Zügel aufnehmen bereitet ihm erneuten Stress, der Versuch den Fuß in den Bügel zu stellen ließ ihn entsetzt wegspringen und ich hatte Mühe ihn zu halten. Dennoch wollte ich nicht aufgeben, und versuchte es immer wieder aufs Neue. Immerhin schaffte ich es nach einer ganzen Weile kurz Gewicht in den Bügel zu geben und mich über den Sattel zu legen. Da er aber auch dabei immer noch überaus angespannt war, beendete ich dann so den Aufsteigversuch für heute, streichelte ihn ausgiebig und lobte mit ganz vielen netten Worten.
Im Schritt ließ ich ihn noch ein paar Runden neben mir herlaufen, dann brachte ich ihn wieder zum Stall. Nachdem wir ihn abgesattelt hatten, wurde er noch ausgiebig geputzt und trocken gerieben. Danach hielt ich eine ziemlich lange Lagebesprechung mit Ernesto ab. Mein Mann war ebenfalls dabei. Ernesto war der Auffassung, genauso wie ich, dass es einfach für mich auch zu gefährlich wurde wegen meiner Krankheitssymtome, mich erneut auf Templao zu setzen.
Ich empfand es eigentlich auch als Zeichen, dass es nun so weit war, dass Ernesto komplett das Ruder übernehmen sollte. Er hatte sich in den letzten Jahren intensiv bei mir reiterlich weiterbilden können, war nun gefestigt, auch wenn ein Pferd mal buckelte und hatte ganz viel Erfahrung in meinem Unterricht sammeln können. Also beschlossen wir, dass er nun selber alles erledigen sollte. Vom Putzen bis Satteln, longieren und reiten. Auch mein Mann meinte, dass es wirklich besser wäre, denn er kannte meine ganzen gesundheitlichen Probleme, mein rampuniertes Knie, Hüftbursitis,Sakralgelenksarthrose plus die tauben Beine und tauben Hände sowie die Muskelermüdung durch die Multiple Sklerose. Ich trat also an dieser Stelle zurück, und dieser Schritt war ja sowieso geplant und wäre unweigerlich auf Ernesto zugekommen.
Es nützt ja nichts wenn der Ausbilder und Trainer sein Pferd reiten kann, er selber aber nicht. Wir beschlossen zunächst einmal dem Pferd eine 3 wöchige Pause zuzugestehen, damit das Erlebnis in den Hintergrund gerückt werden konnte. Danach wollten wir wieder mit dem Training beginnen. Uns allen würde diese Pause sicherlich gut tun. Das Schlimmste was einem nämlich passieren kann, ist Stress im Kopf zu haben und Druck.
Wir selber mussten auch erst mal in uns gehen, und das Geschehene mit der Zeit aus dem Kopf streichen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn das Pferd würde es sofort merken, wenn wir Zweifel hätten beim nächsten Versuch, aufzusteigen. Und gerade bei Templao, der sehr sensibel ist, wäre das ein äußerst schlechter Umstand um das Training wieder aufzunehmen.
Es begann also die Zeit, in der Ernesto sich ganz alleine mit Templao beschäftigte, natürlich immer mit meiner Hilfe an seiner Seite. Nachdem die 3 Wochen Schonfrist vergangen war, lernte Templao seine neue Bezugsperson sehr ausgiebig kennen. Mit Templao war es generell nicht immer einfach, wenn ein Wechsel der Personen stattfand.
Da hatten wir wieder einmal ausgiebig bemerken können, als mein Mann sich dazu entschlossen hatte, den Stalldienst zu übernehmen, und wir keine Praktikantin mehr aufnahmen. Templao brauchte lange, um sich an Roberto zu gewöhnen. All diese Kriterien bauten wir in das nun folgende Training mit ein. Ernesto ließ Templao sehr viel Zeit, an Reiten wurde zunächst einmal überhaupt nicht gedacht, und es wurde auch nichts in dieser Hinsicht geplant. Im Prinzip fand der ganze Korrekturprozess erneut statt. Zu Anfang hatte Ernesto große Probleme, die Hinterhufe des Pferdes sauber zu machen. Da brauchte er noch meine Unterstützung, denn Templao wollte partout die Hinterhufe nicht geben. Ich zeigte es Ernesto immer wieder geduldig, wie es am besten ging bei diesem Pferd. Mit der Zeit wurde er immer sicherer und heute klappt dies problemlos. Mit ganz viel Liebe und Hingabe widmete Ernesto sich seinem Pferd und er hatte vollstes Verständnis für das Tier.
Ich kann Templao nur beglückwünschen, denn sicherlich hätte er in anderen Händen keine solche Zukunft gehabt, sondern wäre beim Schlachter gelandet. Ernesto wollte zunächst einmal die Arbeit an der Longe mit ihm trainieren.
Wenngleich er das Longieren natürlich zuvor auch schon einmal gemacht hatte, tauchten hier doch einige Probleme auf. Ernestos Körpersprache war Templao nicht klar genug. Daraus resultierend hatten beide große Probleme beim Longieren auf der linken Hand.
Templao stoppte jedes Mal auf der offenen Zirkellinie und drehte sich auf die rechte Hand um. Mir war relativ schnell klar woran das lag und meine Analyse teilte ich Ernesto mit. Und ich machte es ihm vor. Sich das Ganze praktisch anzuschauen erklärt oftmals viel besser, als nur mit Worten. Ich wies Ernesto darauf hin, dass er unbewusst die linke Hand beim Longieren zu hoch hielt, und seine rechte Schulter nach hinten zeigte. Dies allein reichte dem so sensiblen Templao aus, dies als Zeichen wahrzunehmen, die Hand zu wechseln. Ernesto versuchte es also so, wie ich es ihm erklärt hatte und er staunte nicht schlecht, dass es auf Anhieb funktionierte.
Es gibt tatsächlich solche Pferde, die so feine Sinne haben, dass sie die minimalste Körperspannung des Menschen sofort wahrnehmen.
Man kann von solchen Pferden das Kommunizieren mittels Körpersprache perfekt von ihnen und mit ihnen erlernen. Ich gab Ernesto weiterhin ganz viele Tipps die ihm enorm weiterhalfen, dass Longieren mit Templao zu perfektionieren. Mir persönlich machte es sehr viel Freude den beiden zuzuschauen, wie die anfänglichen Hürden Stück für Stück verschwanden. Wir wiederholten die Arbeit mit Stangen auf dem Boden, die er im Schritt und Trab überwinden musste. Auch hier entstanden wieder einmal Probleme, wie zu Anfang, denn nun war eine andere Person an seiner Seite, die ihn animieren musste, über die Stangen zu laufen. Zu mir hatte er Vertrauen, und ich hatte das Know how und konnte ihm die Sicherheit vermitteln die er brauchte, um über diese gruseligen Stangen zu gehen.