Den Staub der Väter abstreifen. Hermann Grabher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Grabher
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347132542
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trifft. Vieles, was in den letzten Jahrzehnten überbordend gross geriet, wird sich zurücknehmen müssen: Ferienressorts, Kreuzfahrtschiffsgiganten, Riesenverkehrsflugzeuge und vieles mehr. Ein Trend zurück zur Vernunft, zur Normalität tut allenthalben gut, insbesondere auch der überforderten Natur. Uns geht es noch immer sehr gut, selbst wenn wir uns künftig von allem etwas weniger leisten werden.

       3. Von meinem Schwiegervater, meiner Schwiegermutter und ihrer Tochter

      Mein Schwiegervater Paul Meier, geboren 1899, starb 1998, erreichte somit ein Alter von 99 Jahre. Der Diakon, der die Abdankung hielt, fragte mich zuvor: „Was war Paul Meier für ein Mann?“ Ich dachte nach. Eigentlich hätte ich dem Seelsorger so viel erzählen können von Paul, meinem Schwiegervater. Stattdessen sagte ich: „Schade, dass er nicht noch zwei Jahre angehängt hat. Dann wäre er ein Mensch gewesen, der in drei Jahrhunderten gelebt hat!! Ist zweifellos selten!“ Der junge Diakon reagierte nachdenklich: „Wissen Sie, Herr Grabher, dort wo Ihr Schwiegervater jetzt angekommen ist, zählt das überhaupt nicht!“

      Der Diakon hatte recht. Meinem Schwiegervater hätte diese Marke in drei Jahrhunderten gelebt zu haben nichts bedeutet (mal abgesehen davon, dass er sie ja auch nicht erreicht hat!). Paul hatte null Interesse an Sport, null Interesse an Rekorden, null Interesse an irgendwelchen Bestleistungen welcher Art auch immer. Sein Leben war unspektakulär. Dennoch war der Mann nicht gewöhnlich.

      Pauls Vater war Schreiner in der Stadt St.Gallen mit einer kleinen Werkstätte. Gerne hätte der Grossvater meiner Frau grössere Gegenstände aus Holz hergestellt – Möbel, Schränke, Betten, Tische, Stühle, was Holzhandwerker eben produzieren zu normalen Zeiten, wenn die Konjunktur gut ist. Aber weil die Menschen vor dem ersten Weltkrieg durchwegs bettelarm waren, gab es keine Aufträge dieser Art. Die Leute brachten dem Schreiner alte Möbelstücke zum Reparieren, wenn sie kaputt gingen. Ein Stuhlbein war abgefallen und der Schreinermeister stellte ein neues her und befestigte es am alten Stuhl. „Paul, geh zum Kunden und bring ihm den reparieren Stuhl vorbei. Kassiere gleich das Geld. Und damit kaufst Du einen Fünfpfünder für das Abendessen!“ Paul erzählte mir, dass er sich als Kind schwor, nie so arm sein zu sollen, wie seine Eltern. „Und weisst Du, Fehler machten die auch noch dazu: Wenn man am Abend ein frisches Brot auf den Tisch stellt, isst die Familie den halben Laib! Ist ja logisch! – Wenn man arm ist, muss man darauf achten, stets altes Brot aufzutischen, denn davon wird dann weniger gegessen!“

      Paul machte eine Lehre als Elektriker, ein Beruf, der damals als zukunftsträchtig galt. In der Elektrizität liegt unsere Zukunft! Nach der Lehre bewarb er sich bei der PTT als Telefonmonteur. Auch in Bezug des Telefons schienen die Sterne günstig zu stehen! Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er in Zürich, dann wurde er ins Rheintal versetzt. Dort war er vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg jener Servicemonteur, der für das ganze Gebiet des Rheintals zuständig war für Servicearbeiten. Einen Kollegen hatte er nicht, er war der Einzige der Region. Wenn ein Telefon nicht richtg funktionierte, wurde Herr Meier von der Telefonzentrale in St.Gallen aufgefordert die Reparatur durchzuführen, was er gewissenhaft machte. Auch im Büro unseres Geschäftes waren seine Dienste hin und wieder gefragt. Natürlich ahnte ich, ein junger Mann, der ich damals war, überhaupt nicht, dass der Telefonreparateur Meier dereinst mal mein Schwiegervater werden würde. Aber Herr Meier fiel mir auf, weil er alles so akkurat und gewissenhaft machte. Und immer ganz genau gleich: Nach Abschluss der Arbeit telefonierte er der Zentrale: „Hier ist Meier. Der Service ist durchgeführt. Fräulein, rufen Sie mich nun als Test unter Telefon Nummer sowieso an, damit ich sehe kann, dass alles wieder funktioniert!“ Danach verabschiedete sich der freundliche Herr Meier und begab sich zum nächsten Kunden.

      Als ich im Frühling 1967 bei Herrn und Frau Meier ganz förmlich um die Hand der Tochter des Hauses mit Namen Judith anhielt (ja, das machte man damals so, wenn man ein korrekter Mensch sein wollte!), verdrückten die beiden älteren Leutchen einige kleine Tränen. Paul Meier begab sich ins andere Zimmer, holte dort eine Flasche Hochprozentigen und drei silberne Kelche, die schon ziemlich Patina angesetzt hatten, weil sie schon sehr lange nicht mehr benützt worden waren. Dann prosteten wir uns gegenseitig auf unser Glück zu. „Du bist uns der liebste Schwiegersohn, den wir uns vorstellen können!“ Die Tochter des Ehepaars Meier fehlte bei dieser Gelegenheit, weil sie beruflich in Amerika weilte. „Judith und ich werden an meinem Geburtstag, 18. September, offiziell Verlobung feiern. Und an Judiths Geburtstag, am 25. November dieses Jahres, werden wir heiraten! Vorausgesetzt, dass ich Euch genehm bin!“ Anna Meier schnupfte: „Ich habe seit je Gott gebeten, dass Judith keinen Mann mit dunkler Hautfarbe nachhause bringt! Nicht weil ich diese ablehne würde oder nicht mag, sondern weil ich einen solchen Mann ja nicht verstehen könnte! Ich könnte nicht schwätzen mit ihm! - Lieber Gott, ich danke Dir, dass Du mein Gebet erhört hast!“

      Eigentlich war Mutter Meier die Kupplerin von Judith und mir. Traf ich sie zufällig in der Post – dreimal im Jahr – fragte ich sie wie es Judith gehe. Dies stand mir zu, denn immerhin war Frau Meiers Tochter mal mein Schulschatz in der ersten Klasse der Primarschule. Dabei erfuhr ich jeweils, wo in der Welt sich das Mädel gerade aufhielt. Mutter Meier war stets in ein und derselben Mission unterwegs, wenn sie zur Post ging, nämlich um einen Brief an ihre Tochter aufzugeben. Dann, nachdem wir uns ausgetauscht hatten, wendete Frau Meier jeweils den Briefumschlag, den sie in der Hand hielt, kramte umständlich einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und schrieb hinten aufs Couvert: Herzliche Grüsse von Hermann. Irgendwann fiel dieser Satz auf fruchtbaren Grund und ich bekam Antwort aus New York. Der Anfang von Judiths Brief an mich lautete: Du kannst mir ja nicht ein Dutzend Grüsse über meine Mutter zukommen lassen und ich reagiere nicht darauf… Bei einem späteren Heimaturlaub hatte es dann zwischen uns beiden gefunkt.

      Nun denn, es gab terminliche Schwierigkeiten. Judiths Arbeitsvertrag in New York war vollendet und sie hatte sich anschliessend auf eine längere Reise durch USA, Kanada, Mexiko und Guatemala begeben. Den Kontakt hielten wir mit Briefschreiben. Andere Kommunikationsmittel existierten nicht, mal vom (sehr kostspieligen) Telefonieren abgesehen. Judith schrieb mir täglich einen Brief. Ich schrieb Judith gleichfalls jeden Tag einen Brief. Alle paar Tage wurden diese Briefe in ein Couvert gesteckt und zur Post gebracht. Ich hatte meine Post nach Denver Colorado postlagernd gesandt, nach L.A. Hauptpost postlagernd, nach Mexico City Hauptpost postlagernd… stets funktionierte alles perfekt. Irgendwann schrieb Judith: „Sorry, Liebster, ich schaff es terminlich nicht am 18. September zurück in der Schweiz zu sein!“ Also schickte ich ihr den Verlobungsring postlagernd nach Memphis Tennessee am Mississippi. Die Verlobungsfeier an meinem Geburtstag in der Schweiz war deshalb speziell, weil bei dieser Celebration die Braut fehlte. Judith informierte mich, dass sie mich anrufen werde während unserer Verlobungsfeier. Als sich um Mitternacht die Braut noch immer nicht gemeldet hatte, wurde ich von der kleinen Festgesellschaft gehänselt: „Die versetzt Dich!“ Aber schon eine Minute danach war es soweit. In den USA war ein Feiertag und die Telefongesellschaft hatte geschlossen. Also musste meine zukünftige Frau von einer öffentlichen Zelle aus telefonieren, dabei alle fünf Sekunde eine Quartermünze in den Schlitz werfen. Bis sie so viele Coins beisammen hatte, dauerte es…

      Paul Meier, mein Schwiegervater, verwendete seine ganze Freizeit damit sein weites Gelände zu urbanisieren. Er baute und betonierte. Es entstanden Mauern, Brücken, Stiegen. Ein Stall für Kaninchen, Meerschweinchen und Hühner. Ausserdem ein Balkon, um im Sommer draussen an der frischen Luft essen zu können. Sein grösstes Werk war ein Kraftwerk zur Stromgewinnung. Er baute eine Staumauer und staute damit einen seiner beiden Bäche zu einem kleinen Weiher auf. Wurde der Schieber geöffnet, schoss das Wasser durch ein Druckrohr zu einer zwanzig Meter tiefer gelegenen Turbine. Über einen Dynamo wurde kostenloser elektrischer Strom erzeugt, der zum Kochen, Bügeln oder Staubsaugen genutzt wurde. Nach einer halben Stunde, sobald der Weiher leer war, wurde der Schieber geschlossen, der elektrische Schalter umgelegt und anschliessend bezog der Haushalt den Strom wieder aus dem öffentlichen Netz, wie jeder andere Bürger auch. Paul Meier war ein Pionier in Sachen Ökostrom, ja eigentlich ein Visionär. Immerhin geschah dies vor weit über fünfzig Jahren.

      Im Jahr 1964 wurde Paul Meier pensioniert. Er sagte: „Mann, bin ich froh, aufhören zu können. Ehrlich, ich hätte dem technischen Fortschritt nicht mehr folgen können!“ Der Nachfolger bei der PTT war Max, sein Patensohn. Als Max ein Vierteljahrhundert später pensioniert wurde,