Es kam auch mal vor, dass einer von uns, ein Pushmann, selber in den Waggon hineingeschoben wurde. Im Handumdrehen war er drin, weil hinter ihm zu viele Leute nachdrängten. So was konnte einem Pushmann im Prinzip immer mal passieren, war ja auch bloß der Beginn des eigentlichen Problems. Fängt nämlich drin im Waggon ein Fahrgast an zu stänkern – wir Pushmänner seien alle Rüpel, wir pressten die armen Leute ohne Rücksicht auf Verluste in die Züge hinein – und verpasst unserem Kollegen eine Kopfnuss. Unser Kollege aber auch ein Heißsporn, und so wächst sich die Sache ungeheuer aus, mit dem Ergebnis, dass er von einer ganzen Meute verdroschen wird. Drei Wochen pflegebedürftig. Die Fahrgäste, die ihn so schlimm zugerichtet hatten, haben sich alle schnell aus dem Staub gemacht, von denen wurde keiner gefasst, und am Ende musste unser Kollege den Zahnersatz, den er vorn brauchte, selber berappen. Nach der ganzen Geschichte ließ er sich aber sowieso nicht mehr viel blicken.
Was ich dafür nun öfter zu Gesicht bekam, das waren diverse Unholde. Beziehungsweise konnte man sie so oft nun auch wieder nicht sehen, aber dafür war meist einfach dem Notschrei einer Frau zu entnehmen, dass da irgendwo tief im Menschenknäuel drin ein Perverser steckte. Einmal wurde ein Vierzigjähriger, der den Rock eines weiblichen Fahrgasts besudelt hatte, noch am Tatort gefasst. War da denn überhaupt genug Platz gewesen für die entsprechenden Handbewegungen? Ich fand die Sache doppelt bemerkenswert: Zum einen die Dreistigkeit der Tat mitten in der zusammengepressten Masse, zum andern aber wiederum der Umstand, dass der Täter nicht einfach in dem Gewühle hatte untertauchen können. Coach wiegte sein Haupt: „Solche Fälle gibt’s zuhauf.“ – „Aber, hör mal, auch wenn er noch so drauf steht ... mir geht nicht ein, wie man sich bloß deshalb so eine schreckliche U-Bahn-Fahrt antun kann.“ – „Was weiß ich. Keine Ahnung, was in so einem Perversen vorgeht. Ich hab einen Bekannten, der gerade als Polizist angefangen hat. Eines Tages rückt er auf eine Anzeige hin aus und erlebt, wie ein Nackter, ein Mann Mitte dreißig, in einer städtischen Blumenrabatte Blumen frisst.“ – „Er hat wirklich gesagt: Blumen?“ – „Ja, Blumen.“
Der Typ, den man bei seinem Ejakulations-Happening auf frischer Tat ertappt hatte, wurde als Wiederholungstäter identifiziert. Er machte einen verschlossenen Eindruck, hatte eine sehr helle Haut und ein Gesicht voller Sommersprossen. Weil er den Kopf gesenkt hielt, warf sein fetter Hals Falten, aus denen unentwegt der Schweiß rann. „Na, biste in deiner Eigenschaft als Perversling sogar mal nach Hawaii gereist?“ Unser Regisseur war sehr sarkastisch, aber der Typ blickte einfach nie auf. Sein geblümtes Aloha-Hemd nahm sich im Kontrast zu den Uniformen der Polizisten, die neben ihm standen, gar so wunderschön aus, und nur aus diesem Grund gingen mir aus heiterem Himmel allerlei Fragen durch den Kopf: Ob’s wohl auch auf Hawaii eine U-Bahn gab? Und in den Rabatten Blumen fressende nackte Männer? Und Pushmänner? Ich hätte es gern selber rausgefunden, frei nach dem Kinderlied: Die Erde ist doch rund, brauchst nur immer gradaus gehn ... Lebt wohl hier, Aloha Oe!
Und was ich mir noch dachte: Ob nicht letzten Endes alle Menschen Wiederholungstäter waren? Man wiederholte sich, indem man eine U-Bahn nahm, arbeitete, seine Mahlzeiten einnahm, Geld verdiente, ausging, sich was einbildete, Leute anlog, Leute drangsalierte, Leuten begegnete, sich mit Leuten unterhielt, an irgendwelchen Besprechungen teilnahm, sich weiterbilden ließ, Schmerzen in Kopf, Schultern, Knien und Zehen hatte, sich einsam fühlte, schlief, sich sexuell betätigte. Und indem man starb, wiederholte man auch nur, was schon andere vor einem getan hatten. „He, Seungil, den ganzen Körper einsetzen, den ganzen Körper!“ Machte ich mich also wieder ans Werk, schob mit vollem Einsatz, ein Wiederholungstäter.
Als der August kam, hatte ich schon viel Abgebrühtheit entwickelt, war praktisch schon ein alter Hase. Außerdem gab es ja immer mehr Frischlinge. Die Prügel, die unser Kollege bezogen hatte, hatten nämlich viel nachhaltigen Schrecken verbreitet. So mancher warf das Handtuch auch deshalb, weil ihm der Job schlicht zu anstrengend geworden war. Sukzessive rückte ich zur Zug- und Bahnsteigmitte hin auf. Je näher man dieser Mitte kam, umso mehr Fahrgäste hatte man zu schieben, und oft schob man nur mit dem Effekt, dass links und rechts wieder Leute aus dem Waggon herausquollen. Gewiss, die Vorgesetzten und Kollegen wurden immer freundlicher, alle schätzten meine Zuverlässigkeit, das Arbeitsklima war prima. Diesbezüglich gab es wirklich nichts zu beanstanden. Und klar,
mit der Bezahlung war ich nach wie vor zufrieden,
doch Morgen für Morgen Augenzeuge der Qualen unzähliger Menschen zu werden, das entwickelte sich für mich immer mehr zu einer Art Stress. Mit knapper Not schließt sich die Waggontür, und ich sehe mich schon wieder Aug’ in Auge mit einer flach an die Fensterscheibe gedrückten Fratze. Schau sich einer diesen Ballon an! Wangen und Lippen so flachgepresst, als sollten sie im nächsten Moment aufplatzen. Zu Schweinsrüsseln plattgedrückte Nasen. Bei solchen Anblicken hielt ich mir anfangs den Bauch vor Lachen, aber dieses Lachen verging mir mit der Zeit. „Schön und gut, aber jetzt beschreiben Sie doch einfach mal das Antlitz der Menschheit schlechthin, so wie Sie es im Gedächtnis haben.“ Nähme mich einer vom Mars so in die Mangel, wäre das für mich keine kleine Pein. Meine Gedächtnis-Collage, zusammenmontiert aus entstellten Gesichtsfragmenten, würde die Bewohner anderer Sterne sicher zutiefst deprimieren. Das „Zug fährt ein!“ riss mich aus meinen Gedanken. „Phhha, Hhhha!“ Eben, eben, bleiben wir bescheiden bei der U-Bahn. Die Fantastereien von einer Milchstraßenbahn oder so lassen wir besser sein. Solang die Menschheit so ist, wie sie ist.
Schließlich landete ich, weil wieder ein Neuer zu uns stieß, ganz in der Mitte, beim Waggon Nummer 8. Als ich auf die gelb in den Boden eingelassene Zahl runterblickte, kam mir auf einmal wieder mein Rechenschlüssel in den Sinn. „Warum bloß muss ich mich so abstrampeln?“ Mochte zunächst nur eine dumme, müßige Frage sein, nichtsdestoweniger hielt ich es für nötig, mir selber gut zuzureden. Meine Rechenschieberei war, sagte ich mir, ja doch nur eine harmlose Zahlenspielerei. Es war ein Morgen, an dem ich plötzlich wieder ungewohnt schwere Gewichte auf Head, shoulders, knees and toes lasten spürte. „Phhha, Hhhha!“ Wieder fuhr ein Zug ein, die Türen gingen auf, jemand wurde von der Menschenmenge auf den Bahnsteig hinausgedrückt. Genauer besehen war dieser Jemand
mein Vater.
Wie soll ich es ausdrücken? Mir die Kleider vom Leib reißen, ins nächste Blumenbeet springen und dort Blumen fressen, gleich unmittelbar nach Dienstschluss – das war’s, wonach mir da zumute war. „Ah, Papa ...“ Ich kann mich nicht recht erinnern, ob ich etwas in der Art gesagt habe oder nicht. Nur, dass ich meinen Vater, der ja zur Arbeit musste, wieder in den Zug zurückschob, das aber gerade so wie seinerzeit, als ich diese hübsche Frau schieben sollte. Ich schob fest, nein, zu schwach, aber eben doch einigermaßen, und er bewegte sich doch, ... doch nicht hinein. Zu schlechter Letzt schloss sich die Tür. Ich beugte mich nach vorn, stütze mich mit den Händen auf den Knien ab und hechelte: „Phhha, Hhhha!“ Vater besserte an seiner Krawatte herum. Sie hatte einen schiefen Sitz bekommen, den er nun mit einem schiefen Lächeln korrigierte. Und ganz kurz, so eine kurze Zeit nur, wie man braucht, um eine Krawatte zu binden, flocht etwas mich und meinen Vater zusammen, zu einem absolut unlösbaren Knoten. Kuriose Empfindung. Außerhalb dieses Knotens war ein Höllenlärm wie eh und je, aber innerhalb sammelte sich so was wie die Stille des Weltalls. Und durch die Lärmwand hindurch, die uns beide – die wir uns freilich dennoch nicht direkt in die Augen sehen konnten – so einfriedete, in unsere Stille herein, drang dann doch die Lautsprecherdurchsage:
„Zug fährt ein.“