Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Möllers
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783347000643
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Die Ärzte, die Irene dann später krankgeschrieben hatten, waren anscheinend nicht befragt worden. Wahrscheinlich hatte man befürchtet, dass sie sich hinter ihrer Schweigepflicht verschanzen würden, besonders wenn man an ihren Attesten Zweifel hegte oder der Vorwurf leichtfertigen Handelns unausgesprochen im Raum stand. An einer ernsthaften Erkrankung hatte Irene sicher nicht gelitten, da hätte die Obduktion etwas ergeben. Er hatte immer noch einen Finger an der Stelle. Da stand aber nichts. Irene war völlig gesund gewesen. „Abgesehen davon, dass sie tot war“, fiel Stojan dazu ein. Was auch immer im kurzen Leben der Irene, geborener Irina Altmann, die Ärzte diagnostiziert haben mochten, musste folgenlos verheilt sein. Was auch immer die junge Frau den Ärzten vorgespielt haben mochte, um an einen gelben Schein zu kommen, dürfte zur Lösung des Falles nicht so entscheidend beitragen, dass Stojan große Lust verspürte, als ungebetener lästiger Gast in Wartezimmern stundenlang abgegriffene Sport- oder Autoillustrierte durchzublättern. Da hoffte er schon eher, der Pfarrerin oder Ex-Pfarrerin etwas Gewichtigeres zu entlocken.

      Ohne offizielle, das heißt durch Staatsanwaltschaft veranlasste oder zumindest gedeckte Ermittlungen stand ihm kein Apparat zur Verfügung, blieb alles Hobby, möglicherweise teures Hobby. Es sei denn, er fand Mitstreiter, jemanden, dem es um Gerechtigkeit, Sühne oder Strafe ging oder auch nur um Wahrheit, und der sich auch nicht vor Kosten scheute. Irgendwo musste er seine Rente und seine laufenden Verpflichtungen im Blick behalten. Privatdetektive, Reisen mal eben einfach so, aufwändige Technik, das ging nicht ohne weiteres. Er konnte lange Zeit ohne viel Geld auskommen, manchmal gönnte er sich aber auch gern etwas. Für die Enkel legte er immer mal wieder etwas zurück, einige sozial aktive Institutionen durften mit seinen regelmäßigen Spenden rechnen, und wenn irgendwo Katastrophen Not und Elend hinterließen, konnte er ohne einen Griff ins eigene Portemonnaie nicht gut schlafen. Aktenzeichen XY würde auch nicht auf seinen Wunsch und einen bloß vage gefühlten Verdacht hin Sendezeit opfern, um bundesweit nach Tattoos zu fahnden. Er brauchte schon ein bisschen mehr, aber wie kam er an Antworten auf seine Fragen?

      So viele Sackgassen! Von Ralf stand nach seinem Geschmack eindeutig zu wenig in den Protokollen. Wenn der nicht völlig unterbelichtet oder dauerverliebt oder komplett unter Irenes Pantoffel gestanden hatte, muss der doch mehr wissen, als die dürftige Notiz hergab:

      „Ralf Lichtmann, geboren 1992, Auszubildender in einer Autolackiererei in Schmallenberg, der bei den Arbeitskolleginnen und beim letzten Klassentreffen Irenes ein halbes Jahr vor ihrem Tod von ihr als ihr Freund geführt wurde, hatte wohl keine Trauerzeiten eingehalten und für rasche Ablenkung gesorgt. Schon bei der ersten Vernehmung hatte er die emotionale Distanz zum Opfer betont und mehr eine beliebige und belanglose Gelegenheitsbeziehung unter gleichaltrigen jungen Menschen zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung einschließlich Probierens und bei Gefallen Austobens sexueller Spielchen gezeichnet. Kennengelernt hätten sie sich bei den Abendveranstaltungen der Pfarrerin, höchstens vier Monate engere Freundschaft wollte Ralf gelten lassen, davon seien die letzten vier Wochen schon nicht mehr so eng gewesen, nach Madeira hätten beide eigentlich keine große Lust mehr aufeinander verspürt.“

      Das war´s. Wenig. Nicht einmal, ob Irene in der Nacht vor ihrem Tod bei ihm gewesen war. Zu dem erwähnten Klassentreffen fand Stojan auch nichts. Dabei gab es doch offenbar Aussagen: von Irene über Ralf, von Klassenkameraden über Irene, über Irene und Ralf. Hatte Ralf etwas über die Klassenkameraden gesagt? Hatte noch jemand etwas von der Mutter erfahren, was nirgendwo vermerkt wurde, weil es niemand wichtig genug fand? Es musste jemand ausgesagt haben, dass Irene auf einem Klassentreffen war, vielleicht ein halbes Jahr vor ihrem Tod. Sie musste dort erzählt haben, dass sie einen Freund hatte. Vielleicht hatte sie den Klassenkameraden noch mehr erzählt? Was sie sonst so trieb? Nebenberuflich? Was sie gerne machte? Wofür sie sich interessierte? Etwas, was sie nicht wussten, sie aber weiterbringen konnte. Nicht unbedingt musste. Aber das konnte man doch erst wissen, wenn man es versucht hatte, oder, Kollegen Schlafmützen?

      Ärger kam hoch. „Kann man sich denn nicht mal in Ruhe an der Bandscheibe operieren lassen, Herr Gott sakra!“

      Er müsste mal wieder vor die Tür. Nicht nur vor die seiner Datscha. Aus größerer Distanz wurde sein Blick manchmal schärfer. Nordsee vielleicht, die Idee behagte ihm.

      Aber erst die Pfarrerin. Das Büro war in Meschede, hatte Sonja gesagt. Zeit hatte er ja. Also.

      Auf den ersten Blick gefiel sie ihm, ihr offenes Gesicht mit den Lachfalten vom Mund bis zu den großen Augen mit dem frechen, etwas spöttischem Blick, dem asymmetrischen Pagenschnitt, den sie ihrer Frisur in zur Strumpffarbe passendem Auberginerot verpasst hatte. Auch das, was zwischen Kopf und Schienbein seine Aufmerksamkeit ungewöhnlich lange in Anspruch nahm, gefiel ihm sehr: wie der breite Kragen einer cremefarbenen Bluse aus dem V-Ausschnitt des olivgrünen Cashmerepullover lugte, auch etwas asymmetrisch, darunter der leicht schwingende Wollrock in passendem dunklen Schottenkaro. „Wenn sie jetzt noch etwas nettes sagt, nehme ich mir mehr Zeit, trödele ein bisschen und frage sie vielleicht auch mal was Privates“, dachte Stojan.

      „Mitkommen!" Stojan fand das ausgesprochen nett und erhob sich etwas schwerfällig aus dem Besuchersessel, um ihr die Hand zu reichen, doch da stand sie schon im Flur und hielt ihm gerade noch mit zwei Fingern die Tür auf. Übersetzt hieß das wohl "länger bleiben ist nicht, träumen erst recht nicht, allenfalls das allernötigste an Zeit wird hier gewährt, und, wer die Kostbarkeit dieser Gunst nicht zu würdigen weiß, geht am besten sofort!"

      Helen Bell, Sozialarbeiterin und Theologin, ehemalige evangelische Pfarrerin, konnte sich gut an Irene Altmann erinnern. „Freitags war sie sehr oft da, sie fiel auf, oder gehörte dazu und fiel erst auf, wenn sie nicht da war. Sie interessierte sich wenig für Probleme anderer, mischte sich selten mal ein in Gespräche, stand meistens in der Raucherecke. Manchmal flipperte sie ein bisschen, aber ohne große Freude oder Ausdauer, oder sie tanzte ein paar Schritte, wenn Musik auf Eins Life lief, die ihr zu gefallen schien. Aber sie tat das immer nur allein, verträumt und dermaßen aufreizend beckenbetont, also die meisten Mädchen hat das, glaube ich, abgestoßen. Wie das bei den Jungs ankam, weiß ich nicht. Aber richtig anmachen wollte sie die auch nicht, wenn mal einer etwas näherkam, machte sie eher wieder auf "Fass mich nicht an!". Anerkennung war ihr aber wichtig, Lob für ihr Outfit oder einen coolen Spruch. Bekam sie aber nicht von mir, da bin ich zu ehrlich. Ihre Klamotten mögen topmodisch gewesen sein, ich fand sie nur unnatürlich oversexed und einfach nichts für eine junge, einigermaßen hübsche Frau, und die Sprüche, naja, die besseren jedenfalls hatte ich alle vorher schon mal woanders gehört. Floskeln, unkritisches Geplapper, sie war nicht diejenige mit eigener Meinung, eigenem Kopf. Mit ihr ins Gespräch zu kommen, war nicht einfach, ich war zugegebenermaßen auch nicht sehr ausdauernd bei meinen Versuchen. Das hat mir natürlich furchtbar leidgetan, als ich das hörte, und es zu spät war.

      „Halten Sie es für möglich, dass sie sich prostituiert hat?", fragte Stojan.

      „Mir ist tatsächlich damals der Gedanke gekommen, ja, hatte auch schon überlegt, wie ich sie darauf ansprechen könnte, ohne sofort abzublitzen. Zuhause hatte sie sich längst jeder Kontrolle entzogen, im letzten Ausbildungsjahr war sie zumindest unstet, verpasste Prüfungsarbeiten, ließ sich oft krankschreiben, erzählte man, dann aber immer wegen banaler Geschichten, die von Donnerstag bis Freitag dauerten und schnell und spurlos ausgeheilt waren. Aber das war noch nicht der einzige Grund, so etwas gab es schließlich öfter bei den frustrierten und angeblich so perspektivlosen Jugendlichen, nein, sie schien im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen über einiges Geld zu verfügen, jedenfalls manchmal. Da war dieser Urlaub auf Madeira, kurz vor Weihnachten ist das wegen des warmen Wetters bei Touristen sehr beliebt und sicher kaum billiger als in der Hauptsaison, fünf Sterne und zwei Wochen, angeblich. Manchmal trug sie Schmuck, nun, ich bin keine Expertin, aber nach Modeschmuck sah der nicht aus. Einmal muss sie auch einige Tage auf einer Motorjacht zugebracht haben, habe ich aufgeschnappt. Und es war nicht ihre Art anzugeben, dafür war sie zu wenig extrovertiert, trotz Imponiergehabe mit ihrem Zeug. Einmal ist sie abgeholt worden freitags, vielleicht halb neun, von so einem nicht mehr ganz neuen Sportwagen. Der Fahrer schien mir auf die Entfernung auch nicht mehr ganz neu, er hat nur kurz gehupt, Irene hat ihre Sachen zusammengesucht und weg war sie, grußlos und ohne sich umzudrehen. Das Kennzeichen, Herr Kommissar?“

      Stojan grinste, er hatte gar nichts gesagt.

      Helen