Ein Witzbold, dachte der Sergeant. Irgend so ein Schlauberger, der es komisch findet, die Polizei zu narren.
Doch er legte nicht sofort auf, denn die Stimme kam wieder. Leise und stockend berichtete sie von dem verdächtigen Treiben im „Haus Nachtigall“. Erst das Klirren von Fensterglas, dann schwere Schritte von Zimmer zu Zimmer, dumpfes Fallen von Gegenständen. Und dazwischen immer wieder das Pfeifen einer unheimlichen, traurigen Melodie.
„Halten Sie die Stellung, Mrs. Billingsgate. In wenigen Minuten bin ich bei Ihnen!“
„Ein Königreich für ein Gewitter!“ brummte Inspektor Ormerod gequält. Er spielte damit auf die fast unerträgliche Hitze im Dienstwagen an, dessen Scheinwerfer sich jetzt in Windeseile durch die nächtlichen Vororte fraßen.
Seit Wochen war kein Tropfen Regen mehr gefallen, und die Nadel des Barometers schien wie festgelötet.
England ist auch nicht mehr das, was es einmal war, dachte Sergeant Presslie und wischte sich den Schweiß vom Nacken.
Richter Joshua Billingsgate, von dessen Witwe der Notruf stammte, war zeitlebens für seine nicht gerade milden Urteile und Haftstrafen bekannt gewesen, was ihm in einschlägigen Kreisen den Beinamen „Blutrichter“ eingebracht hatte.
„Da besteht durchaus die Möglichkeit, dass einer unserer jüngst entlassenen Kunden der alten Witwe einen kleinen Besuch abgestattet hat“ erklärte Inspektor Ormerod.
„Haus Nachtigall“ stand etwas abgelegen und war in tiefe Finsternis gehüllt.
Während Ormerod um das Haus herumlief, drückte Sergeant Presslie entschlossen die Klingel. Er musste nicht lange warten.
„Polizei? Ist irgendetwas passiert, Gentlemen?“ fragte die alte Dame.
„Das möchten wir gerne von Ihnen wissen“, erwiderte Ormerod, noch immer außer Atem. Er hatte nirgends eine kaputte Fensterscheibe entdecken können.
„Befindet sich der Eindringling etwa immer noch im Haus?“
Mrs. Billingsgate blickte sichtlich entsetzt. „Eindringling?“
„Sie können den Anruf schlecht abstreiten“, antwortete der Inspektor empört. „Immerhin redeten Sie so lange, dass wir das Gespräch bis zu Ihnen zurückverfolgen konnten.“
„Da müssen Sie sich täuschen, meine Herren“, schüttelte sie ratlos ihr betagtes Haupt. „Ich habe nicht bei Ihnen angerufen. Das Telefon steht neben meinem Bett, und Nebenapparate gibt es keine.“
Ihre Augen begannen plötzlich zu leuchten. „Aber kommen Sie doch herein! Was Sie da erzählen, klingt alles sehr aufregend. Seit Joshua mich verlassen hat, ist alles sehr einsam und eintönig hier…“
Wütend verließen Ormerod und Presslie die alte Dame, nachdem sie sicherheitshalber noch die Räume des Hauses gründlich durchsucht hatten. Für sie schien der Fall klar…
Doch in der darauffolgenden Nacht wiederholte sich das alptraumhafte Geschehen.
„Ich habe das Telefon wieder mit ins Schlafzimmer genommen“, flüsterte Mrs. Billingsgate mit vor Angst zitternder Stimme.
Sergeant Presslie schlug mit der Faust auf den Tisch. Zähneknirschend versuchte er, sich weiter in die Lektüre seines blutrünstigen Krimis zu vertiefen.
Aber das heißere Krächzen aus dem Hörer machte ihm das schwer. „Jetzt schlurfen die Schritte die Treppe herauf… O Gott, sie kommen immer näher! Können Sie das unheimliche Pfeifen jetzt auch hören, Sergeant?“
Presslie gab sich Mühe, aber die Verbindung war nicht sehr gut, und das Rauschen in der Leitung konnte auch dem Phantasielosesten Anlass zu unheimlichen Spekulationen geben.
„Die Tür! Er drückt gegen die Tür.“ Ihre Stimme schwoll an.
„Keine Bange“, meinte Presslie. „Ich schicke Ihnen einen Streifenwagen vorbei.“ Sicherheitshalber musste er das tun!
Die Streifenbeamten fanden Mrs. Billingsgate erneut in einem überraschten Zustand vor. Wieder erklärte sie, von nichts zu wissen, war aber sichtlich dankbar für die aufregende Abwechslung ihrer schlaflosen Nächte und verwickelte die beiden Konstabler in lange Gespräche bei Tee und Gebäck.
Zwei Nächte später wurde ein Löschzug nach „Haus Nachtigall“ gerufen. Doch das einzige Feuer, das dort zu finden war, brannte unter dem Teekessel, mit dem die alte Dame die erbosten Feuerwehrleute schon zu erwarten schien…
„Fingerabdrücke?“
Martin Billingsgate betrieb einen kleinen An- und Verkaufsladen und war gerade dabei, einen alten Toaster zu reparieren, als Inspektor Ormerod ihn aufsuchte.
„Auf dem Telefon, jawohl!“ bestätigte der Inspektor.
„Aber wir fanden nur die Ihrer Tante darauf, Sir. Natürlich werden Sie als ihr einziger Verwandter dafür Verständnis zeigen, dass wir nicht länger zusehen können, wie die alte Nachtigall…“, Ormerod hüstelte entschuldigend, „…will sagen: Mrs. Billingsgate weiterhin sämtliche Behörden an der Nase herumführt!“
Der junge Mann nickte verständnisvoll.
„Ich habe nicht gerade das beste Verhältnis zu ihr“, gestand er offen. „Sie schimpft mich einen lausigen Nichtsnutz, der keinen Shilling wert ist. Doktor Connell, ihren Hausarzt, hat sie auch schon öfters mit ihren Anrufen genervt. Der ist übrigens bereit, die alte Dame – in eine angemessene Anstalt zu überweisen.“
Er blickte Ormerod traurig in die Augen.
„Bisher hielt ich meine Einwilligung immer zurück. Seine eigene Tante für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, fällt einem nicht gerade leicht! Aber wenn’s nicht mehr anders geht…“
Beschämt wandte sich Inspektor Ormerod ab, als die alte Dame von den Pflegern in Weiß abgeholt wurde. Dass sie überhaupt keinen Widerstand leistete, machte die Sache nur noch schlimmer für ihn.
Im Haus allein gelassen, durchsuchte Ormerod noch einmal jeden Winkel.
Irgendetwas war ihm von Anfang an nicht geheuer vorgekommen.
Im Gartenhäuschen machte er dann eine überraschende Entdeckung…
„Fingerabdrücke? Schon wieder?“ Martin Billingsgate fragte dies mit der üblichen unschuldigen Miene.
„Auf dem Telefon, jawohl!“ konterte Ormerod grimmig. Im Gartenhäuschen. Jemand hatte damit die Leitung, die zum Haus führt, fachmännisch angezapft. Zweifellos Sie, wie wir anhand der Abdrücke feststellen werden! Es konnte ja auch gar nicht anders sein“, sprach der Inspektor etwas ruhiger weiter.
„Wenn kein Fehler in der Leitung und Ihre Tante nicht der Anrufer war, die Anrufe aber trotzdem von ihrem Anschluss stammten, musste sich jemand dazwischengeschaltet haben. Jemand, der ihre Stimme täuschend echt nachahmen konnte. Jemand, der auch ein Motiv dafür hatte.“
Martin Billingsgate gab sich geschlagen.
„Ich brauchte dringend Geld, doch Onkel Joshua hat alles ihr vermacht. Tantchen hielt nichts von einem Testament, aber solange sie noch lebte, würde ich keinen Penny bekommen. Sie umzubringen, getraute ich mich nicht, und da fiel mir die Sache mit der Unzurechnungsfähigkeit ein…“
„Was Sie getan haben, ist fast so schlimm wie Mord!“ stieß Ormerod verächtlich aus.
Er ließ es sich nicht nehmen, die alte Dame höchstpersönlich wieder in ihr trautes Heim zurückzubringen.
ENDE
Russisch Roulette in Vegas: N. Y. D. - New York Detectives
von Franc Helgath
Der Umfang dieses Buchs entspricht 114 Taschenbuchseiten.
Lionel Lister leitet das »All America Casino« in Las