Eine dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, sodass die Umgebung im Zwielicht beinahe gespenstisch wirkte. Jeb blickte ihr nun unverwandt ins Gesicht. Dann antwortete er: »Du hättest mich fragen müssen, wie ich dich gefunden habe.«
Jebs Worte wirbelten durch Jennas Kopf. Sie blieb stehen. Blickte sich erneut um. Steppe, so weit das Auge reichte. Sie versuchte, den Ort auszumachen, wo sie im hohen Gras gelegen hatte. Unmöglich. Diese Landschaft war wie ein großer grüngelber Ozean, in dem man sich verlieren konnte.
Es ist unvorstellbar, dass er mich bloß durch Zufall gefunden hat.
Sie räusperte sich heiser. »Du hast gewusst, wo du mich finden würdest?«, rief sie ihm hinterher, denn Jeb war unverdrossen weitergelaufen.
»Ja. Das war Teil der Botschaft. Komm jetzt, wir müssen uns beeilen. Dass ich dich tatsächlich gefunden habe, bestätigt mir, dass alles stimmen muss, was die Botschaft vorgibt.«
Jenna schloss wieder zu ihm auf und sah ihn ernst an. Sosehr sie Angst vor seiner Antwort hatte, sie musste die nächste Frage stellen, ob sie wollte oder nicht. »Stand darin auch, wovor wir davonrennen?«
Er zögerte, warf einen Blick in Richtung des Waldes, der noch immer weit entfernt am Horizont lag. Jenna merkte, dass Jeb zu einer Erklärung ansetzen wollte.
Plötzlich erklang in der Ferne ein lang gezogener Schrei. Er schien von weit her zu kommen, drang anfangs nur schwach heran, übertönte dann aber deutlich das Rauschen des Windes im Gras. Jenna zuckte zusammen. Es klang fürchterlich, Angst einflößend und vor allem – überhaupt nicht menschlich.
»Hast du das auch gehört?« Jeb war erstarrt, sämtliches Leben schien aus ihm gewichen zu sein.
»Ja, unheimlich. Was war das?« Jenna blickte in die Richtung, aus der der unmenschliche Schrei gekommen war, konnte aber nichts entdecken. Jeb stand noch immer reglos und sie berührte ihn vorsichtig am Arm: »Jeb?«
»Lass uns schnell weitergehen, die Sonne wird gleich ganz verschwunden sein. In der Botschaft stand, dass wir in Gefahr sind, wenn die Sonne nicht scheint.« Jeb sah sie ernst mit seinen klaren braunen Augen an. »Auf dem Zettel steht noch mehr, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Etwas ist anscheinend da draußen und verfolgt uns. Es hat mit unserer Angst zu tun. Wir sollten vorsichtig sein, zumindest, bis wir mehr über die Sache herausgefunden haben. Jetzt müssen wir weiter.«
Jemand verfolgte sie? Wer und warum?
Jenna hatte verstanden, dass sie im Moment keine Antworten von ihm bekommen würde. Stattdessen deutete sie zum Himmel, wo sich große Gewitterwolken hinter den Bergspitzen auftürmten. Sie liefen direkt darauf zu. »Ist es dann schlau, direkt auf den Wald zuzusteuern?«
Jeb nickte. »Dort gibt es Holz und wir können ein Feuer machen. Hier draußen in der Steppe brennt entweder gar nichts oder alles.«
Das war logisch, doch der Gedanke beruhigte Jenna nicht. Im Gegenteil. Der Wald war immer noch zu weit entfernt, als dass sie ihn vor dem Gewitter erreichen würden. Das schien auch Jeb zu denken, denn er schaute sie fragend an: »Meinst du, wir können ein Stück rennen?«
Als ob er spürte, wie viele Fragen ihr noch auf den Lippen brannten, brach es hastig aus ihm heraus: »Wir reden weiter, wenn wir die anderen gefunden haben.«
»Die anderen?«, keuchte Jenna im Lauf. »Welche anderen?« Aus irgendeinem Grund hatte sie die ganze Zeit gedacht, allein mit Jeb zu sein.
»Wir müssen zu ihnen. Vielleicht wissen sie, was hier los ist. Wenn wir überleben wollen, brauchen wir diese Antworten.«
Die anderen.
Sie waren nicht allein.
Gott sei Dank! Menschen bedeuten Schutz und Sicherheit.
Erneut ertönte ein Schrei. Diesmal klang es eher wie ein Kreischen, das Jenna einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Und das Echo war jetzt schon wesentlich näher.
Es bedeutete mehr Kraft zur Verteidigung, falls sie tatsächlich verfolgt wurden.
2.
Sie jagten ihn seit dem Augenblick, als er erwacht war. Verwirrt, in einer fremden Welt, ohne Erinnerung. Nackt. Er schlüpfte gerade in die festen Wanderschuhe, als er die Schreie zum ersten Mal hörte. Sie waren nah. Und es waren mehrere.
Er spürte die Gefahr augenblicklich. Seine Nackenhaare richteten sich auf und ein Zucken durchlief seinen Körper.
Was immer das war, es war gefährlich. Instinktiv wusste er, dass er fliehen musste.
Als er sich aufrichtete, stieß ihn etwas mit unglaublicher Wucht zu Boden. Es war, als wäre er mit voller Kraft gegen eine massive Wand gelaufen, eine Wand aus frostigem Eis. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass dieses Etwas eine menschenähnliche Gestalt hatte. Augenblicklich spürte er die Kälte in seinem linken Arm, dort wo ihn die Gestalt berührt hatte. Er wich auf dem Boden krabbelnd zurück, seinen linken Arm, wo ihn das Wesen gestreift hatte, zog er nutzlos und steif hinter sich her. Es gelang ihm in der kurzen Zeit und in seiner unglücklichen Position nicht, sich ein Bild seines Gegners zu machen. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich verschwinden musste. Er warf sich herum, drückte sich mit seinem gesunden Arm vom Boden hoch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Dann rannte er. Er rannte, so schnell er konnte. In seinem Rücken ertönte aufgeregtes Rufen, lang gezogenes heiseres Heulen, das sich in seinem Kopf festzusetzen schien und dem bald andere Schreie antworteten. Was immer ihn da angegriffen hatte, es war nicht allein. Es gab andere, die jetzt ebenfalls Jagd auf ihn machten. Warum griffen sie ihn an? Die unmenschlichen Laute dröhnten in seinen Ohren. Er erhöhte das Tempo. Sein Atem ging keuchend und er versuchte, den lähmenden Schmerz in seinem linken Arm zu ignorieren. Er sah nicht zurück, wollte gar nicht wissen, wie viele ihn jagten, aus Angst, seine Beine könnten bei ihrem Anblick versagen.
Der Rucksack schlug schmerzhaft gegen seinen Rücken, die Wasserflasche darin drückte durch den Stoff. Aber er war froh, die Sachen noch zu haben. Im Laufen zog er die Riemen straff.
Besser, dachte er. So ist es besser. Bloß nicht stolpern, wenn du stolperst, haben sie dich.
Er glaubte, den Atem seiner Verfolger im Nacken zu spüren, die Kälte in seinem Arm zog bis in die Fingerspitzen. Beinahe konnte er sie nicht mehr spüren, und als er versuchte, sie zu bewegen, krampften seine Finger. Es war, als würde das Blut in seinen Adern gefrieren. Er stöhnte auf, doch er biss die Zähne zusammen und forderte das Letzte aus seinem Körper heraus.
Etwas hinter ihm erschütterte den Boden und raste in einer Druckwelle heran. Was war das? Eine Explosion? In letzter Sekunde warf sich Mischa nach vorn, ein heller Schmerz durchzuckte seinen Nacken, als er auf seine Schulter stürzte. Für einen kurzen Moment war alles um ihn wie im Nebel. Wieder hörte er Rufe und Schreie hinter sich. Sie klangen allerdings weiter entfernt als zuvor. Er hatte sie nicht abgehängt, aber sich einen Vorsprung verschafft.
Mischa rappelte sich mühsam hoch und warf hastige Blicke über seine Schulter zurück.
Im unheimlichen Zwielicht konnte er mehrere dunkle Umrisse ausmachen, die sich schleppend auf ihn zubewegten. Sie waren ungefähr so groß wie er. Einzelne Gesichter schälten sich aus der dunklen Masse heraus, immer wieder blitzten helle Haare daraus hervor. Er kam auf diese Weise nicht schnell genug voran, aber er wollte wissen, was da hinter ihm herjagte. Aber jedes Mal, wenn er eine der Gestalten in den Blick bekommen hatte, verschwamm alles vor seinen Augen, er konnte sie nicht fixieren. Das Bild schien zu flackern. Er gab auf.
Wie weit sind sie weg?
Einige Hundert Meter, mindestens.
Vornübergebeugt, versuchte er, sich zu erholen. Der Brustkorb pumpte hektisch, bei jedem Atemzug stach es in der Lunge. Sein mittlerweile komplett steifer Arm krampfte. Irgendetwas pulsierte schmerzend an der Hüfte, aber er ignorierte es. Er zog die Wasserflasche aus dem Rucksack und trank sie in hastigen Schlucken leer. Über neues Wasser konnte er sich später Gedanken machen.
Jetzt musste er weiter. Er wusste, dass er