»Eben! Niemand!«
Ich verdrehte die Augen. Meine Ma arbeitete als Restauratorin, was bedeutete, dass sie alles anhimmelte, was verstaubt oder kaputt war. Am glücklichsten sah sie immer aus, wenn sie Altes wieder zum Glänzen brachte. Manchmal nannten wir sie deshalb nur Flohmarktkrankenschwester, aber nicht mal das ärgerte sie. Das Kleidungsstück, das ich an Ma am häufigsten sah, war ihr mit Farbe und Gips verschmierter Arbeitskittel. In dem saß, kniete oder lag sie oft in irgendwelchen Kirchen auf Baugerüsten und pinselte Wandgemälde nach, die außer ihr niemand mehr erkannte. In der Villa Evie gab es zwar keine Wandgemälde, dafür aber haufenweise gruftigen Kram, der – zugegebener Weise – ihre Hilfe ziemlich nötig hatte.
Ich beobachtete Benno, der die Gelegenheit genutzt hatte: Die Marmelade war in seinem Mund verschwunden und der Toast irgendwo unter dem Tisch. Jetzt stand er auf und machte sich auf die Suche nach seinem Lego. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, um ihn nicht zu verraten.
»Leider hat der Bäcker hier am Samstag nur vormittags geöffnet.« Ma nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse und sah mich an. »Wir brauchen dringend noch ein Brot für morgen. Ich weiß, du bist gerade erst aufgestanden, aber wir müssen so viel …«
»Jaja, ich mach das schon. Kein Problem.« Seit letztem Jahr zählte es zu meinen Aufgaben, am Wochenende zum Bäcker zu gehen.
»Danke, mein Schatz«, flötete Ma mir zu. »Die Bäckerei ist gleich die Straße runter, nur bis zur Kreuzung.«
»Okay.« Schnell stellte ich meinen Teller ins Waschbecken. Eigentlich war ich ganz froh über einen Grund, vor die Tür zu kommen.
Beim Zähneputzen überlegte ich einen Moment, wie ich am schnellsten meine Haare zu einer Frisur überreden konnte. Aber auch heute fiel mir zu meinen dunkelblonden Schnittlauchlocken nicht viel ein. Also machte ich mir einfach einen Zopf. Das war erstens nichts, womit man übermäßig auffiel, und zweitens ging es schnell.
In der Diele griff ich mir das Geld, das Ma mir hingelegt hatte, schlüpfte in meine Turnschuhe und ließ die Eingangstür nach einem »Bis gleich!« hinter mir zufallen. Die vier Stufen unserer Veranda sprang ich nach unten und lief den Lavendelweg entlang Richtung Bäcker. Rechts und links reichten mir die Gartenzäune nur bis zum Knie, was echt ungewohnt war für ein Großstadtkind wie mich.
Zum Bäcker war es wirklich nicht weit. Das Schild mit dem aufgemalten Croissant erkannte ich schon von Weitem. Am Ende des Lavendelwegs öffnete ich die Ladentür und erschreckte mich kurz über das Bimmeln einer Messingglocke über mir. Der Raum war altmodisch eingerichtet, eng und die Leute drängelten sich. Ein richtiger Tante-Emma-Laden! Ich mochte unseren neuen Bäcker sofort und stellte mich ans Ende der Warteschlange. Es roch herrlich nach warmen Brötchen, Vanille und Zimtschnecken.
Vor mir standen zwei Jungs, von denen sich einer zu mir umdrehte. Er war fast einen Kopf größer als ich und bestimmt zwei Klassen über mir. Bevor ich weggucken konnte, hob er eine seiner Augenbrauen. Sofort wurde mir warm. Jetzt fing er auch noch an zu grinsen. Hoffentlich lief ich nicht gleich wieder rot an! Das konnte ich nämlich super, wenn mir etwas unangenehm war.
»Hi«, sagte er. »Bist du neu hier?«
Zack! Sofort begann sich mein Körper in ein Streichholz zu verwandeln. Stocksteif und mit knallrotem Kopf.
»Ähm … wir sind gestern in die Villa Evie gezogen«, sagte ich, um einfach irgendwas zu sagen. »Das ist das alte Haus mit dem –«
»Echt jetzt? Du wohnst in der Villa Evie?« Der Junge riss die Augen auf und stieß den dunkelhaarigen Jungen neben ihm in die Seite. Dann grinste er noch breiter. »Hey, Mats, was sagst du dazu? Die wohnt neben uns, in deiner geliebten Gruselvilla!«
Gruselvilla? Na, das fing ja toll an. Noch keinen Tag hier und schon war es für einen Lacher gut, dass ich in der Villa Evie wohnte. Ich holte tief Luft und kniff die Lippen aufeinander.
Mats, der Junge mit den dunklen Locken, verzog nur ärgerlich den Mund. »Halt doch die Klappe, Leon!«
Der Blonde lachte und klopfte Mats auf die Schulter. »Hör nicht auf ihn«, meinte er und drehte sich wieder zu mir. »Mein Bruder ist von der Villa Evie total besessen. Bestimmt kommt er dich jetzt ständig besuchen und will dann jedes Mal eine Führung durchs Haus bekommen.« Kurz beugte er sich ein Stück näher und flüsterte: »Um das ›große Geheimnis‹ zu lüften.«
»Mann, du nervst!« Mats lief jetzt genauso rot an. Aber bei ihm sah es mehr nach Wut als nach Verlegenheit aus. Für den Bruchteil einer Sekunde warf Mats mir einen Blick zu, den ich schwer deuten konnte. Dann drehte er sich einfach zu der Frau hinter der Theke um. »Äh, hallo. Sechs Brötchen, zwei Croissants und ein Krustenbrot, bitte.«
Leon grinste mich weiter an. »Und? Hast du auch einen Namen, Mädchen aus der Villa Evie?«
»Ja. Hab ich«, sagte ich nur und hob mein Kinn, weil mir das alles so unangenehm war. Im gleichen Moment bezahlte Mats und drückte Leon eine seiner Tüten in den Arm. Mit einem Nicken in meine Richtung verschwand er samt seinem Bruder durch die Ladentür. Schnell bestellte ich ein Brot und vier Hörnchen und tat so, als hörte ich Leons »Tschüss dann, Mädchen mit Namen!« einfach nicht mehr.
Zurück lief ich doppelt so schnell. Erst vor unserem Haus blieb ich stehen. Ich überlegte, was dieser Leon damit gemeint haben könnte, dass sein Bruder von der Villa Evie besessen war. Welcher Junge war bitte schön von einem alten Haus besessen? Und was meinte er überhaupt mit »Gruselvilla«? Langsam öffnete ich das Gartentor und sah an den Hausmauern hinauf.
Von außen betrachtet sah die Villa Evie eigentlich wie ein in Zuckerguss getauchtes und verziertes Minischloss aus. Zumindest wenn man ganz weit weg stand und dabei die Augen halb zukniff. Gestern bei unserer Ankunft hatte Ma ständig das Wort »zauberhaft« geflötet und dabei auf die gusseisernen Schnörkel-Geländer, die endlosen Fenstersprossen und bunten Glasscheiben gezeigt.
Aber spätestens wenn man direkt davorstand, war klar: Die Hütte war einfach nur kurz vorm Zusammenkrachen. An allen Ecken bröckelte die Fassade, die Fenster schlossen kaum noch, der Lack blätterte, es roch superkomisch und überall wucherte wilder Efeu die Hauswände und Glasscheiben hinauf. Aber das Schlimmste von allem war der Ort, an dem die Villa stand. Ganze sechs Stunden hatten wir uns im Auto gelangweilt, bis wir endlich hier angekommen waren – irgendwo kurz vor der holländischen Grenze in einem verträumten Kleinstadt-Nirgendwo. Mit fünf fand man solche Umzüge vielleicht lustig, aber mit dreizehn? Bestimmt nicht!
Langsam ging ich auf die Veranda vor der Eingangstür zu. Hätte Pa sich nur nicht mit dem Direktor seiner Schule verkracht, dann hätte er nicht nach freien Stellen für Musiklehrer gesucht und er hätte niemals vorgeschlagen umzuziehen. Und ich würde jetzt nicht im Lavendelweg 33 von Schnarchhausen hocken.
Wie so oft stellte ich mir vor, was wäre, wenn ich geheime Superkräfte hätte, mit denen ich alles verändern könnte. Da gab es nämlich ein paar Dinge. Als Erstes würde ich natürlich jemand sein, der nicht immer gleich rot anlief. Ich würde nie mehr vor mich hin stammeln, wenn mich jemand anquatschte, und mir müsste nichts mehr peinlich sein.
Vor allem aber würde ich mich zurück in mein altes Zuhause zaubern.
Aber leider konnte ich nicht zaubern und Superkräfte hatte ich erst recht keine. Ab jetzt würde mein Leben also nicht nur langweilig werden, ich war auch noch völlig allein.
Mit Gänsehaut auf den Armen dachte ich an die bevorstehende Zeit, in der ich auf die Schule gehen würde, in der mein Papa unterrichtete. Sehr viel uncooler konnte es gar nicht mehr werden. Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Jetzt waren erst mal Sommerferien und ein bisschen Schonfrist hatte ich noch, jedenfalls wenn ich diesen Leon nicht mehr traf.
Ich griff nach meinem Handy, aber es war das Gleiche wie gestern: kein Empfang. Ich konnte also nicht mal meiner besten Freundin Mona ein paar »Bruchbuden«-Fotos