Ella Blix
Wild
Sie hören dich denken
Die Arbeit der Autorinnen am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.
Hinter dem Pseudonym Ella Blix verbirgt sich das Autorinnenduo Antje Wagner und Tania Witte.
Antje Wagner hat sich mit ihren mehrfach ausgezeichneten Jugendbüchern bereits einen Namen gemacht und steht vor allem für außergewöhnliche Mysteryromane. 2012 wurde sie von der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Autoren unter 40 Jahre aufgenommen.
Tania Witte ist Autorin, Journalistin und Spoken-Word-Performerin. Neben diversen internationalen Stipendien erhielt sie 2016 den Felix-Rexhausen-Sonderpreis für ihre journalistische Arbeit und 2017 den Martha-Saalfeld-Förderpreis für Literatur sowie 2019 den Mannheimer Feuergriffel.
Ella Blix ist die Essenz dieser beiden Autorinnen: Realismus trifft auf Mystik, authentische Charaktere auf Spannung und Sprachspiel auf Humor.
Mehr über Ella Blix unter www.ellablix.com
Weitere Bücher von Ella Blix bei Arena:
Der Schein
Weitere Bücher von Tania Witte bei Arena:
Die Stille zwischen den Sekunden
Ella Blix
WILD
Sie hören dich denken
Roman
1. Auflage 2020
© 2020 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Textcopyright: © Antje Wagner und Tania Witte
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung
von Bildmaterial von © shutterstock
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN 978-3-401-80885-7
Besuche den Arena Verlag im Netz:
www.arena-verlag.de
1. KAPITEL
Das Camp
Noomi
Sie musste fünfmal zuschlagen, bevor das Glas splitterte. Bei Beyoncé hatte das viel einfacher ausgesehen, aber Beyoncé zertrümmerte im Video ja auch eine Autoscheibe und nicht das Hochsicherheitsglas eines Nobeljuweliers.
Sie schloss die Hände fester um den Griff ihres Baseballschlägers, holte tief Luft und schlug erneut zu.
Wieder.
Wieder.
Wieder.
Nach weiteren drei Schlägen hatte sich die glänzende Scheibe in ein undurchsichtiges Netz aus Splittern verwandelt, das auf magische Weise noch immer zusammenhielt.
»Hey, was soll das?«, rief ein Mann von der anderen Straßenseite und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Was machst du da?«
Wonach sieht’s denn aus?, dachte sie grimmig.
Als sie sich umdrehte, sah sie, wie der Mann sein Handy hervorzog. Sie lächelte ihn an. Er behielt sie fest im Blick, während er tippte.
Ihr Lächeln wurde breiter, dann wandte sie ihm wieder den Rücken zu und rammte den Baseballschläger noch einmal mit aller Kraft gegen die Scheibe, diesmal mit der Spitze zuerst. Das Glassplitternetz wölbte sich leicht nach innen.
Endlich schrillte der Alarm los.
Auch nach der Festnahme funktionierte ihr perfekt durchgeplantes Drehbuch einwandfrei. Sie war fünfzehn, hatte keine Vorstrafen, zeigte Einsicht und Reue, das war das Wichtigste. Doppelplus, dass sie keinen Widerstand geleistet hatte, als die Polizei kam. Der Anwalt betitelte es als Ausrutscher, als einen Moment, in dem sie die Kontrolle verloren habe. Kurzschlussreaktion, wegen des psychischen Stresses des vergangenen Jahres. Die Richterin glaubte dem Anwalt, der wiederum Noomi geglaubt hatte, und ging auf den Vorschlag ein, den sie selbst ihm eingeredet hatte. Für den Schaden musste sie aufkommen, aber das Verfahren wurde eingestellt. Und: Sie schickten sie in das Camp Feel Nature. Damit war sie ihrem Ziel endlich einen Schritt näher gekommen.
Ryan
Die Bäume atmeten.
Das war das Erste, was er wahrnahm, als er die Wagentür zögerlich öffnete und von seinem Sitz nach draußen glitt.
Herr Karl und Frau Plessner vom Jugendamt, die die ganze Autofahrt über ununterbrochen miteinander, aber nie mit ihm geredet hatten, waren bereits ausgestiegen. Auf dem einzigen weiteren Auto, das hier geparkt hatte, einem hellgrünen Transporter, leuchtete ein dunkelgrüner Schriftzug: Feel Nature. Links von Feel und rechts von Nature prangte je eine kleine Tanne. Der perfekte Platz für einen Sonntagsausflug.
Er hielt die Autotür umklammert und blieb so dicht am Wagen stehen, dass er durch die geöffnete Tür die Kühle der Klimaanlage spürte. Er sah seinen beiden Betreuern nach, die – noch immer ohne ihn zu beachten – über den winzigen Sandplatz zu einem Gewirr aus Büschen und Farnen strebten. Die Farne waren riesig. Der größte überragte sogar Herrn Karl, und der war sicher eins achtzig.
Scheinbar unbeeindruckt davon, ließen sie den Blick über das Gelände schweifen, in alle Richtungen, auch in den Wald.
Was suchten sie? War das der »Treffpunkt«, von dem sie im Auto gesprochen hatten? Und wenn ja, wo war dann dieser Jorek von Feel Nature, mit dem sie verabredet waren?
Seine Finger spannten sich fester um die Autotür. Er lehnte den Hinterkopf an das Autodach, reckte das Gesicht in die heiße Spätjunisonne, schloss die Augen. Griff nach dem Medaillon um seinen Hals, hielt es fest, versuchte, an nichts zu denken. Doch die Stimme seiner Klassenlehrerin drängte sich in seinen Kopf.
Warum sagst du nicht die Wahrheit? Wir wissen doch beide, dass du etwas verschweigst. Diese schreckliche Sache mit dem Jugendclub … Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du warst doch nie … gewalttätig.
Sie hatte mehr zu sich selbst als zu ihm gesprochen, wie Erwachsene eben waren. Ihm gegenüber waren.
Ryan! Sprich mit mir. Es ist noch nicht zu spät. Du bist erst vierzehn.
Sekundenkurz hatte er sich vorgestellt, ihr alles zu erzählen, aber sie lag einfach falsch: Es war zu spät. Und zwar nicht erst seit der Sache mit dem Jugendclub. Schon viel, viel länger.
Wenn du mit mir redest, können wir das bestimmt noch geradebiegen. Dann musst du vielleicht gar nicht in dieses Camp.
Aber ich will dahin.
Er hatte es nicht laut ausgesprochen, doch es war die Wahrheit. Er wollte in das Camp. Ein Arbeitscamp für kriminelle Jugendliche, mitten in der waldreichen Felslandschaft des Elbsandsteingebirges. Er wollte diese sechs Wochen zwischen Tälern und Schluchten, egal, wie viel er dort schuften musste. Ganz einfach, weil er nicht mehr in seine Schule zurückkonnte, wo alle ihn für asozial hielten, monströs und stinkend.
Im Camp würde er jemand anders sein können als zu Hause