Zwei Stunden später trafen die beiden in der Hotelhalle ihre Freunde und nach dem Aperitif in der Bar ging es zum Speisesaal, wo sie vom Chef de Service persönlich begrüsst und zu ihrem Tisch begleitet wurden. Nach einem typisch kretischen Nachtessen mit viel Gemüse, gewürzten Joghurtsaucen und Fisch besuchten sie die hoteleigene Disco, um zu tanzen. Weit nach Mitternacht verabschiedeten sich die Vier voneinander und freuten sich auf das gemeinsame Frühstück am nächsten Morgen unter dem Feigenbaum. „Zuerst schlafen wir aber richtig aus und ich bestell das Frühstück erst auf 10 Uhr. Ist das okay für euch?“ wollte Vivienne von ihren Freunden wissen. „Klar, 10 Uhr ist perfekt“ meinte Noella.
Doch mit Ausschlafen wurde nichts, weil bereits um 7 Uhr das Telefon klingelte. Schlaftrunken und mit Blick auf die Uhr, nahm Vivienne den Hörer ab. „Ja?!“ fragte sie ungehalten. Zu ihrem grossen Erstaunen war ihr Chef dran und erkundigte sich nach ihrem Befinden. ‚Er hat wohl nicht daran gedacht, dass Kreta in einer anderen Zeitzone liegt und wir hier erst 7 Uhr haben‘ überlegte Vivienne kurz. Obwohl, auch 8 Uhr war ihrer Meinung nach während Ferien zu früh, um angerufen zu werden. Dies sah Fabian genauso und wollte mit vorwurfsvollem Blick wissen, wer dran war. Vivienne gab ihm vorerst keine Antwort und wechselte ein paar Worte mit dem unerwarteten Anrufer. „Uns geht es gut, danke. Eigentlich wollten wir heute etwas ausschlafen, doch daraus wird wohl nichts mehr“, konnte sie sich nicht verkneifen zu bemerken. „Ich bin nachher den ganzen Tag an Sitzungen und darum habe ich dich bereits zu früher Morgenstunde angerufen. Tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe“, entschuldigte sich Konrad Koch halbherzig. Er war ein wenig beleidigt, dass sich seine Angebetete nicht über den spontanen Anruf freute und was ihn besonders ärgerte, war die Tatsache, dass sie ihn immer noch siezte. Vivienne verabschiedete sich wieder und bedankte sich dann doch noch für den Anruf. Als sie den Telefonhörer auflegte, fragte Fabian aufgebracht: „Mami, warum ruft der dich denn an, steht er etwa auf dich?!“ Fabian mochte den Chef seiner Mutter nicht besonders, obwohl er es ihm zu verdanken hatte, dass er bis zu Lehrbeginn an seinen freien Nachmittagen in einer der mechanischen Werkstätten der Firma Matter etwas Sackgeld verdienen durfte. Dafür war er Konrad Koch sehr dankbar. Doch sein distanziertes und oft mürrisches Wesen fand er alles andere als akzeptabel. Vivienne versuchte ihrem Sohn den Grund des Anrufs so plausibel als möglich zu erklären. „Herr Koch leidet sehr unter der Geschichte mit Charlottes Herzstillstand. Sie wird für den Rest ihres Lebens im Zustand eines acht Monate alten Kindes bleiben. Darum benötigt er etwas Zuwendung und Verständnis.“ „Bekommt er von seiner Frau keine Zuwendung?“ wollte Fabian wissen. Er kannte Elena Koch und verstand nicht, warum deren Mann Zuwendung von seiner Mutter erwartete. „Ich weiss es nicht, Fabian.“ gab Vivienne kurzangebunden zur Antwort. „Versuchen wir noch ein Stündchen zu schlafen.“ Doch sie fand keinen Schlaf mehr und fragte sich, wie sie sich künftig ihrem verheirateten Chef gegenüber verhalten sollte. Sie mochte ihn und fühlte sich wohl in seiner Nähe. Doch sie kannte sich selbst nur zu gut, um zu wissen, dass sie einen Mann niemals mit einer anderen Frau teilen würde. Und noch viel weniger wollte sie, dass ein Mann wegen ihr seine Frau verlassen würde. ‚Weg mit den grüblerischen Gedanken, nun will ich meine Ferien geniessen und alles vergessen, was mich daran hindern könnte!‘ nahm sie sich vor. Doch so richtig gelang ihr das nicht und sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken immer wieder zu Konrad Koch abschweiften.
Fünf Tage nach seinem überraschenden Anruf war der harmonische und unbeschwerte Urlaub vorbei. Am Abreisetag Ende Oktober feierte Noella ihren 40. Geburtstag, vier Tage bevor Konrad Koch seinen 50. Geburtstag feiern würde. Vivienne schenkte ihrer Freundin eine Brosche und überlegte sich auf dem Rückflug, ob sie ihrem Chef ebenfalls ein Geschenk zu seinem runden Geburtstag machen sollte. ‚Vielleicht zusammen mit Ulla? Das wäre unverfänglicher. Ich frag sie um ihre Meinung, sobald ich wieder bei der Arbeit bin,‘ nahm sie sich vor.
Am Morgen des ersten Arbeitstags konfrontierte Konrad Koch seine engste Mitarbeiterin mit seinem Liebesgeständnis. Vivienne ging nicht weiter darauf ein, weil in ihrem Büro ein Kandidat für ein Vorstellungsgespräch wartete. Sie war froh, dass sie auf diese Weise ihrem Chef aus dem Weg gehen konnte und ihm die Antwort auf sein Geständnis vorläufig schuldig blieb.
Abends wieder zuhause überlegte sie sich, ob es wohl echte Liebe war, die da zwischen ihnen keimte. ‚Von meiner Seite her eher nicht.‘ Statt Schmetterlinge im Bauch verspürte sie beim Gedanken an eine Liebesbeziehung mit Konrad Koch ein flaues Gefühl im Magen. Genau gesehen war Vivienne in ihrem Leben noch nie bis über beide Ohren verliebt gewesen. In den Partnerschaften mit Bruno oder Richard wuchs die Zuneigung mit der Zeit aus der Freundschaft heraus. So richtig verliebt zu sein, hatte sie sich als Jugendliche ganz anders vorgestellt und insgeheim hoffte sie, dass sie trotz ihrer bald 36 Jahren doch noch irgendwann dem Märchenprinzen begegnen würde, der sie wach küsste. Darunter verstand sie einen Mann, der sie auf Händen trug, mit dem sie durch dick und dünnen gehen konnte, der sie ohne Vorbehalte liebte, so wie sie ihn. ‚ Beruflich gesehen, sind Konrad Koch und ich unbestritten ein sehr gutes Team und ergänzen uns perfekt. Er lässt mir genügend Spielraum und teilt mir ab und zu auch seine Wertschätzung mit. Doch leider steht ihm sein eigenbrötlerisches Wesen und sein Zynismus im Weg, was den Umgang mit ihm nicht eben leichtmacht. Und…er ist gebunden…!‘
Am nächsten Morgen wachte Vivienne wie immer unter der Woche um 6 Uhr früh durch das Klingeln ihres Weckers auf. Um richtig wach zu werden, machte sie zuerst einige Gymnastikübungen und ging währenddessen gedanklich ihren Terminplan für den laufenden Tag durch. ‚Ich muss meinem Chef soweit als möglich aus dem Weg gehen und meine Energie voll und ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Seine Lebensgeschichte und sein Schicksal müssen mir egal sein. Wenn er Hilfe benötigt, soll er sich diese bei seinem Arzt, Apotheker oder wo auch immer holen.‘
Nach der Morgentoilette und einem kurzen Frühstück ging sie ins Geschäft, wo viel Arbeit auf sie wartete. Ihren Chef bekam sie kaum zu Gesicht, weil auch sein Tagesplan eng getaktet war.
Am späten Abend wieder zu Hause, nahm Vivienne vor dem Abendessen ihr übliches Bad, um sich vom stressigen Tag zu erholen. Sie blätterte währenddessen ein paar Seiten in der „Elle“ durch, doch es gelang ihr nicht wirklich, sich auf die Zeitschrift mit den neuesten Modetrends zu konzentrieren. ‚Es kann nicht sein, dass ich ständig an Konrad Koch denke, obwohl ich das gar nicht will,‘ überlegte sie ärgerlich. Sie hörte, wie Fabian nach Hause kam und nach ihr rief. „Bin im Bad und komme gleich runter, um das Abendessen zu kochen!“ rief sie ihm durch die Badezimmertüre zu. Zehn Minuten später stand Vivienne in der Küche und bereitete das Essen vor. „Mami, du wirkst so abwesend. Ist alles in Ordnung mit dir?“ wollte Fabian wissen, während er den Tisch deckte. „Ja alles okay, mach dir keine Sorgen“ versuchte sie ihren Sohn zu beruhigen. „Wie geht es dir, kommst du klar in der Schule?“ versuchte sie abzulenken. „Alles bestens. Was machen wir am Wochenende? Gehen wir nach Zürich oder haben wir Besuch?“ wollte er noch wissen. „Wir fahren nach Zürich zum Einkaufen und ja, abends haben wir Gäste“, liess ihn seine Mutter wissen. „Das ist gut, weil du dann keine Zeit zum Grübeln hast, gell?“ meinte Fabian etwas altklug. Nach dem Essen und Aufräumen der Küche, verabschiedete sich Vivienne ungewohnt früh zum Schlafen. „War heute ein anstrengender Tag. Statt fernzusehen, lese ich lieber noch ein paar Seiten in meinem Buch.“ Fabian