Jahrestage-Buch. Siegfried Reinecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Reinecke
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783347100565
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1976]

      Heute hört ja keiner mehr hin, nicht mal die Verehrte, es bleibt einem nur noch freudloses Wischen am Handy. Die nächsten Generationen müssen sich auch mit ihren Leitmedien und Kommunikationsroutinen herumschlagen. Ihnen sei das Glück gewünscht, das die Jugendlichen im späteren 20. Jahrhundert hatten.

      14. Februar 1967 – Beginn der Konzertierten Aktion

       Perfect Harmony@Deutschland AG

      Als Schlagwort ist sie einfach unsterblich. Wirklich lebendig war das Original aber nur ganze zehn Jahre. Der Begriff Konzertierte Aktion bezeichnet das aufeinander abgestimmte Verhalten verschiedener politischer Akteure zur Erzielung besserer ökonomischer Ergebnisse, indem alle ihre jeweiligen divergierenden kurzfristigen Ziele zurückstellen. Auf Einladung der Großen Koalition, des Kabinetts Kiesinger, trafen sich Vertreter der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und der Gebietskörperschaften Anfang 1967 zum ersten Mal. Als „Vater“ des Konzepts eines Runden Tisches – damals waren fast noch Nierentische modern – gilt Bundesfinanzminister Karl Schiller. Er nahm die Devise „Form follows Function“ ernst und bezeichnete das Möbel, an dem man dann Platz nahm, als einen „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“. Also, der Nierentisch war alles andere gewesen.

      Als vernünftig galt in dieser Zeit der ersten Wirtschaftskrise der noch jungen Republik, die natürlichen Interessengegensätze zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden mit dem Einfluss der Politik zu begrenzen. Nach gerade einmal einem Jahr mit Minuswachstum bei einer Arbeitslosenquote von 2,1 % drängte die Regierung darauf, das hohe Gut der Tarifautonomie zu riskieren. Das führte immer wieder zu Konflikten unter den Teilnehmern, die den sozialdemokratischen keynesianischen Ideen skeptisch gegenüberstanden, mit denen eine „Globalsteuerung“ der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erzielt werden sollte.

       Das Elternteil: Schiller (nicht Dichter, nicht Musiker, einfach „Superminister“)

      Im kurz nach dem erstmaligen Zusammentreten der Konzertierten Aktion verabschiedeten Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gerannen diese Vorstellungen zu verbindlichen Vorgaben an die eigene Politik: In seinem §1 ist zum ersten Mal von dem „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ die Rede, auf dessen Stabilität alle finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen orientiert sein müssten. Weiter heißt es im §3, dass die Bundesregierung „im Falle der Gefährdung eines der Ziele des § 1 […] Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zur Erreichung der Ziele des § 1 zur Verfügung“ stellt.

      Nur von solch einfacher Gesetzgebung und keinesfalls vom Grundgesetz gestützt oder gar gefordert trat somit eine Gesprächsrunde zusammen, die weitgehenden Einfluss auf den Beschäftigungsstand, die Preisstabilität und ein angemessenes Wirtschaftswachstum haben sollte. Sollte oder wirklich hatte? Tatsächlich war ihr wohl nur ein eher kleiner Einfluss beschieden.

      Fundamental aber war das Signal, das von ihrer Einrichtung ausging: Acht Jahre nach dem Godesberger Programm, mit dem die SPD die Versöhnung mit der kapitalistischen Ausrichtung der Bundesrepublik beschlossen hatte, legte sie nun ein Programm der Versöhnung von Kapital und Arbeit auf, mit dem sie einen kulturellen Paradigmenwechsel intendierte und durch das letztlich auch die grundlegendsten Konflikte durch den rationalen Diskurs vernünftiger Menschen zum Wohle aller moderiert werden sollten. Die schon sich aufbäumende Protestbewegung der „68er“ sah das bekanntlich anders. Und die Geschichte der Konzertierten Aktion war nur eine kurze der Harmonie, die abhängig Beschäftigten konzertierten lieber in heftigen wilden Streiks für ihre Interessen, und nachdem das hartnäckig ausgehandelte Mitbestimmungsgesetz mit einer Verfassungsklage auf Antrag der Arbeitgeberverbände geprüft werden sollte, verließen die Gewerkschaften 1978 schließlich zornig das Gremium. Konsequent und ehrlich war das allemal im Angesicht ganz neuer Zeiten.

      Immer wieder gab es in den Folgejahrzehnten Ansätze, die Konzertierte Aktion wiederzubeleben, in der Hoffnung, die Entwicklung politischer Richtlinien durch Konsensualisierung ersetzen zu können. Ihren Namen lieh sie noch einmal einer Aktion im Gesundheitswesen, ihre Intention dem Bündnis für Arbeit des Kanzlers Schröder. Als der ihr jeden konstruktiven Beitrag absprach und eine weitere Verfolgung dieser Strategie für sinnlos erklärte, bahnte er den Weg für das, was unter dem Namen Agenda 2010 bekannt wurde mit dem integrierten Konzept Hartz IV. Das Scheitern der Konzertierten Aktion war so letztlich der Grundstein für eine fundamentale Umwälzung der Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik, ja geradezu eine Kulturrevolution.

      Dennoch: Ihre wenig ruhmreiche Geschichte haftet dem Wort von der Konzertierten Aktion nicht negativ an. Wann immer gesellschaftliche Gruppen oder Einzelpersonen es für sinnvoll erachten, die Kräfte zu bündeln und Partikularinteressen hintanzustellen, ist der Begriff – von seinen historischen Wurzeln nahezu vollständig bereinigt – schnell zur Hand.

       Zitat aus großer Zeit: Aktionsplakat der Berliner Stadtreinigung (2017)

      Eine gute Sache vor allem auf kommunaler Ebene, ein problematischer Weg, wenn dabei fundamentale Widersprüche zugekleistert und eine Partei über den Tisch gezogen wird. Vorsicht also vor dem „Rendezvous am Nierentisch“ (was einmal ein sehr netter Film über eine sehr ,staubige‘ Zeit war).

       23. Februar 1899 – Geburtstag Erich Kästners

       Möblierter Herr, c/o Witwe Ratkowski

      Man kann auch mächtig Pech haben mit denen, die einem den Nachruhm pflegen wollen. Der Schriftsteller Dr. Emil Erich Kästner hat Nachlässigkeit jedenfalls nicht verdient, war er doch stets einer gewesen, der penibel auf Form und Effekt seiner Arbeit achtete.

      Aber dann das: Die Berliner Gedenktafel, die man ihm zu Ehren in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung anbrachte, sieht nur auf den ersten Blick ordentlich gearbeitet aus.

      Ein bisschen schade um das schöne KPMG-Porzellen ist es schon.

      Doch gleich zwei Fehler sind auf ihr eingraviert: Zum einen erschien „Emil und die Detektive“ nicht, wie dort vermerkt, 1928, sondern erst im Jahr darauf. Der Erfolg des Kinderromans war außerdem so groß, dass Kästner sich von den Honoraren eine eigene Wohnung leisten konnte. Und das ist der zweite Fehler auf der Tafel: Nicht erst 1931 fand der Umzug nach Charlottenburg statt, sondern bereits 1929. Warum hätte er auch unkomfortabel noch zwei weitere Jahre als möblierter Herr zubringen sollen? Zumal er zu der Zeit bereits Hausautor am Kabarett der Komiker war. Von seinem neuen Domizil in der Charlottenburger Roscherstraße aus waren es dorthin nur wenige Schritte (heute befindet sich in dem Gebäude von Erich Mendelsohn die Schaubühne am Lehniner Platz). Außerdem traf man Kästner nicht eben selten im Café Leon an, einem renommierten Berliner Tanzlokal im ersten Stock über dem KdK. Hier pflegte er zu arbeiten, was sonst.

      Schon kurios ist also die Tatsache, dass Kästner gerade dann seinen Kiez verlässt, als sein großer Kinderroman erscheint, der zu einem wichtigen Teil in eben dieser Umgebung spielt. Der Autor selbst residierte als Untermieter einer gewissen Witwe Ratkowski in der Prager Straße 17. Das Haus steht infolge Kriegseinwirkung schon längst nicht mehr, es soll sich wohl in Höhe der heutigen Nummer 12 befunden haben. Die bewusste, am 5.1.1990 enthüllte Gedenktafel wurde am Haus Prager Straße 6-10 befestigt. An dessen Fassade brachte man außerdem zu Ehren des kleinen Emil und seines großen Schöpfers Emil Erich eine dem Einbandbild Walter Triers nachempfundene Zeichnung an.

      Roman und Schauplatz ehren das Andenken des Dichters zu Recht. Aber Erich Kästner wird es nicht gerecht, wenn man sein Werk im Wesentlichen auf den „Emil“, „Das doppelte Lottchen“ oder den „Fabian“