Molly hielt sich die Ohren zu, rollte ihre Augen nach hinten. Was wollte sie? Wie sollte ich das deuten? Sie machte mich gaga.
Ob sein kehliger, wimmernder Schrei beim Orgasmus schon das ausdrückte, was er noch nicht in Worte fassen konnte? All das und vieles Undefinierbare mehr ließen mich erahnen, dass dieser Tag anders war als sonst. Ich bemerkte diese neue Qualität, die sich so fremd anfühlte.
Es war beim Whisky Sour. Den mischte er perfekt, während er zur Stereoanlage ging. Er zauberte dort Lou Rawls mit seiner Lady Love aufs Parkett. Lous Stimme drang bis in meine Herz-Hauptkammer vor, löste die Kopf- von meiner Gehirnhaut. Was für eine Stimme! Galant forderte er mich zum Tanz auf, nahm mich in die Arme. Meine Füße schwebten über dem Boden. Schwingend glitt er mit mir durchs Zimmer. Ich quiekte, schrie und lachte. Logopädisch betrachtet, waren es Laute und nicht Worte.
Molly hielt sich die Augen zu. Wieso machte sie das?
Es dauerte zwei weitere Whisky Sour, bis die Überraschung kam. Mit vier anderen Partnern seiner Kanzlei sollte er in Kürze eine Dependance in New York eröffnen. Er musste seine Zelte hier abbrechen. Ich erstarrte. Er meinte es ernst. Ich glaubte, seine Trauer und gleichzeitige Frustration zu sehen, merkte, wenn man genau hinschaute, konnte man im Gesicht des anderen an Augen, Mund, den Gesichtsmuskeln, der Haut viele Emotionen ablesen. Sabia nannte es Antlitz-Diagnostik.
Im Auto küsste mich MML zum Abschied leidenschaftlich. Es gab keine Versprechungen, keine Tränen oder Schwüre. Es war eine unbarmherzige Stille, die sich wie die Pest langsam ausbreitete.
Ich wollte nur noch allein sein, stieg aus, schlug schwungvoll die Autotür zu. Ging die Treppe hoch zur Eingangstür, drehte mich nicht einmal um. Verharrte vor der Tür. Konnte meine Emotionen nicht lesen. Leere war das Einzige, was eine Form hatte. Ich zog den Stöpsel aus meiner emotionalen Wanne, ließ meinen Tränen freien Lauf, fühlte mich benutzt, wütend, frustriert. War das der Cowboy?
Molly saß bequem im Sessel und grinste.
DIE GUTE MUTTER
Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen, blieb ich erschrocken im Flur stehen. Jede Menge Leute waren im Wohnzimmer versammelt. Ich erkannte den Sohn von Mrs. Clark, der aufblickte, als er mich sah. Er kam direkt auf mich zugelaufen.
„Hallo Valentina, schön, dich zu sehen. Bitte setz dich doch. Ich muss etwas Schreckliches erzählen!“
„Was ist passiert?“, fragte ich irritiert, schaute auf all die Leute, die Notizen machten, Taschen trugen, Gläser einrollten, Möbel rückten.
„Mutter ist die Treppe heruntergefallen, unten gegen die Wand geprallt. Sie robbte zwar noch bis zum Telefon und konnte Hilfe rufen, aber im Krankenhaus verstarb sie kurz darauf an den Folgen dieses Sturzes.“
Regungslos starrte ich ihn an.
„Valentina, du warst wie eine Tochter für sie!“, hörte ich seine Stimme. Das Atmen fiel mir schwer. Eine eiserne Klammer krallte sich um mein Herz. Für Sekunden überfiel mich eine Art Totenstarre.
„Sie ist tot?“, fragte ich wieder ungläubig.
„Ja“, flüsterte er und erlaubte seinen Tränen hemmungslose Freiheit.
Die Leute packten weiter, machten sich Notizen. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Wie konnte das geschehen? Sie war so fit! Wo war ich, als es passierte? Warum war ich nicht bei ihr? Sie war für mich nicht nur eine Freundin. Ich liebte ihre mütterliche Fürsorge. Sie zeigte mir, dass man selbst im Alter von über achtzig als Witwe rüstig und positiv dem Leben begegnen konnte. Ich liebte ihre lebensbejahende Fröhlichkeit, ihr Lachen und die wippenden Tanzeinlagen, dachte an die sonntägliche Sendung im Fernsehen. Sie liebte es, während der Gospel-Musik zu tanzen, mit Referent Jackson Watts und seiner Fernsehgemeinde begeistert zu beten.
Der Schock ließ mich nicht weinen. Nach intensiven zwei Stunden verließen die Leute und der Sohn das Haus. Wir waren übereingekommen, dass ich so lange im Haus wohnen konnte, bis er einen Käufer gefunden hatte. Was für eine großzügige Geste! Ich umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn.
Während er sich vorbeugte, flüsterte ich in sein Ohr: „Du kannst sehr stolz sein, du hattest eine tolle Mutter. Sie musste mir nicht das Leben schenken, um auch für mich eine liebende Mutter zu sein. Mein tiefes Mitgefühl und aufrichtiges Beileid.“ Ich verneigte mich vor ihm.
Danach lag ich im Bett und meine Welt brach wie ein Kartenhaus zusammen.
Tagebucheintrag: Wie konnte er mich nur so täuschen, meine Gefühle mit Füßen treten? War ich für ihn auch nur ein Zeitvertreib? War MML doch ein Cowboy? War ich nur ein schönes, zeitlich limitiertes weißes Aushängeschild für ihn? Kann ich in diesem Land bleiben? Bekomme ich weitere Stempel? Sehe ich Jeff wieder? Benutze ich ihn als Rettungsanker? Oder er mich? Schaffe ich das nächste Semester? Kann ich etwas anderes studieren? Halte ich mich finanziell über Wasser? Oder muss ich eines Tages kleinlaut aufgeben? Bettelnd meine Füße wieder unter Ellas und Martins Tisch stellen? Verkrafte ich die Trauer? Erst war sie eine Fremde, dann Freundin und fürsorgliche Mutter. Finde keinen Halt. Dieses Schweben im luftleeren Raum macht mir unglaubliche Angst.
Könnte schreien.
Ich schlug mit der Faust wild auf meine Bettdecke ein, schmiss die Bücher über Darwin und Columbus in die Tonne, fluchte, schrie, weinte. Molly lag gekrümmt am Boden, hielt sich die Augen zu.
Wie sollte ich nur entscheiden? Was sollte aus mir werden?
AUF DEM WEG ZUM G-PUNKT
Am nächsten Morgen stand Mary vor der Tür. „Mein Gott, habe ich mir Sorgen gemacht. Du bist gestern Abend nicht mehr ans Telefon gegangen. Habe es immer wieder lange klingeln lassen. Ich weiß Bescheid, habe mit dem Sohn von Mrs. Clark gesprochen. Komm her, Süße! Lass dich trösten.“
Ich genoss ihre Umarmung. Plötzlich löste sie sich von mir, riss ihre Augen auf.
„Ich hab’s, habe die Idee, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Bist du offen für neue Erfahrungen? Für neue Gefühle? Willst du mal aussteigen … aus deinem Verstand?“
„Mein Gott, was hast du vor? Das klingt ja spannend. Was muss ich dafür tun?“
„Nicht viel. Es ist mein Geschenk, sozusagen mein Mitbringsel aus der Schweiz für dich: Entspannung anstelle von göttlicher Schokolade oder kitschigen Kuhglocken. Mein Geschenk ist symbolisch, eine Art Schweizer Uhr, traditionell mit Handaufzug. Wenn du sie an der richtigen Stelle aufziehst, läuft sie wie am Schnürchen, ein Präzisionswerk, das dir die Stunde X zeigt auf dem Weg zum G-Punkt. Natürlich nur, wenn du es willst und zulässt!“
„Manno! Du machst es aber spannend, Mary. Was soll das sein?“
„Du lernst eine neue Erfahrung kennen. Lass dich doch überraschen. Ich denke, in einigen Wochen bist du so weit. Dann hat deine Trauer eine andere Qualität. Du hast erfahren, wie es ist, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. Du lernst etwas über Endgültigkeit. Lernst, was man eventuell versäumt oder verpasst hat, was man diesem Menschen hätte noch sagen oder zeigen wollen. Lernst, dass wir nichts mehr rückgängig machen können. Die Endgültigkeit als grausames Gefühl und als Erkenntnis ist eine tiefe Erfahrung.“ Sie küsste mich liebevoll.
Es dauerte tatsächlich neun traurige Wochen. Mary holte mich von zu Hause ab. Sie sprudelte vor Freude und Unternehmungslust. Sie war ein Happy-Girl, dessen gute Laune ansteckend war. Die Fahrt dauerte fast vierzig Minuten. In ihrem schicken Cabriolet fuhren wir auf dem Highway in Richtung Barrie. Mary hatte mir freundlicherweise die Augen verbunden. Es sollte die Spannung erhöhen und meine Aufmerksamkeit schärfen. Bis zur Auffahrt zum Highway konnte ich ihr sagen, wo sie entlangfuhr. Dann verließen mich meine Eingebungen.
Als sie die Binde abnahm, orientierte ich mich, schaute