Knut schlenderte durch den Garten und suchte nach einem geeigneten Platz für sein Tipi. Mehrfach hatte er an die sonnengeschützte Stelle unter dem Walnussbaum gedacht, doch dort war es oft feucht und überall wimmelte es von Feuerkäfern. Allerdings hätte er hier seine Ruhe und könnte mit seinem Opa zusammen einen Unterschlupf bauen, der sogar genügend Platz für seine Plüschtierbande bereitstellte. Knut war sich nicht sicher, denn es bot sich eine zweite Möglichkeit, das Tipi gut positioniert zu errichten. Auch in der Nähe seines Sandkastens gab es eine schöne Stelle, die sich als Bauplatz für das Indianerzelt anbot. Dort spielte er gern mit seinen Metallautos und plante mit großem Enthusiasmus den Stadtverkehr für sein Netz aus Hauptstraßen und Verzweigungen. Doch der Sandkasten mündete an Nachbars Garten und der Sohn des Kleingärtners bereitete Knut bei jedem Augenkontakt Angst. Nicht, dass Thilo böse Grimassen zog oder sich Knut gegenüber bis dato fes verhielt, war es ein Gefühl von Unbehagen, das sich in Knut ausbreitete, sobald er Thilo zu Gesicht bekam. Es muss an den Augen des Jungen gelegen haben, die einen mystischen Schimmer in sich trugen, der an einen See mit entgegengesetzter Tiefe erinnerte. Dazu dieser stechende Blick, der mit dem einer Dohle gleichzusetzen war. Thilo hatte eine nahezu weiße, nur mit einem Blauschimmer durchfärbte, Iris, die seinen Augen als Blende diente. Da Thilo in Knuts Parallelklasse ging und gleichaltrig war, hätte es Knut leicht fallen können, seinen Nachbarn als Spielkameraden wertzuschätzen. Fakt ist: Es war nicht einfach, einen geeigneten Standort für das Tipi auszuwählen, der Knut keine unbewussten Bauchschmerzen bereitete. „Was würde Opi dazu sagen?“, dachte er in sich hinein, als Knut eine knallgelbe Löwenzahnblüte stutzte und dabei grübelte, ob afrikanische Löwen auch so ein feines, gut duftendes Gebiss hätten.
Als Knut zu seinem Opi schritt, wusste er nichts von der Überraschung, die ihn an jenem Julitag erreichen sollte. Werner hatte sich überlegt, Knut seine Ruhla-Armbanduhr zu schenken. Diese hatte er sich mühevoll von seinem Monatsverdienst abgespart und nach jahrelanger Maloche gegönnt. Knut konnte die Uhrzeit nicht lesen.
Aber was nicht war, könne schnell werden, so Werners optimistische Einschätzung.
„Knut, komm’ mal bitte her. Ich hab’ was für dich.“
Sein Enkel schlenderte direkt in Werners Richtung und stand anschließend friedfertig vor ihm.
„Junge, diese Uhr ist aus dem Thüringer Wald. Sie ist sehr schön und zeigt zuverlässig die Zeit. Du musst sie nur jeden Tag aufziehen.“
Knut wunderte sich darüber, dass ihm sein Großvater die wertvolle Uhr zeigte.
„Ich möchte, dass sie dir gehört. Pass’ gut auf das Schmuckstück auf! Wir lernen ab morgen zusammen die Uhrzeit und wenn du die intus hast, kannst du auch was mit der Armbanduhr anfangen.“
Knut wirkte aufgewühlt. So ein tolles Geschenk hatte er noch nie bekommen. Und dann von seinem geliebten Opi.
„Bis du die Zeit gelernt hast, pack' ich die Uhr in deine kleine Holzschatulle, ja? Dort kommt sie nicht weg.“
Knut war überwältigt. Er streichelte die linke Handfäche seines Großvaters und bedankte sich innig bei ihm. Ein so lieblicher Tag muss nicht aufgeschrieben werden, um ihm Bildhaftigkeit zu verleihen. Es gab ihn wirklich.
Wo immer du dein Haus errichtest,
baue es mit ehrlichen Mitteln.
Denn die Kartenspieler sind die ersten,
die den Einsturz vermelden.
KAPITEL DREI.
Es gibt nur einen männlichen Vornamen, der bei Knut für klitschnasse Handfächen sorgt – Thilo.
Knut hatte sich entschieden. Das Tipi sollte direkt am Sandkasten errichtet werden, damit er genügend Material hatte, um nachträglich einen Kamin ins Zelt einbauen zu können. Gemischt mit Wasser (die Regentonne stand links neben der Sandkiste), ergab sich eine tolle Masse, die aus Knuts Sicht bestens geeignet war, um sein neues Versteck an kühleren Tagen mit Wärme versorgen zu können. Der Kamin war schon geplant, doch zuerst musste das Tipi gebaut werden. Knut wusste, dass sein Großvater mit dem Füttern der Hühner beschäftigt war. Er begab sich fotten Schrittes vom Sandkasten hinüber zum Gehege, in dem Werner das Gefügel mit Haferfocken und frisch gekochten Kartoffeln versorgte. Den Tieren ging es prächtig. Mit viel Auslauf versorgt, scharrten sie etwas Sand durch die Gegend, pickten dabei nach etwas Essbarem und legten zufrieden ihre Eier. Werner sah seinen Enkel im Augenwinkel kommen und wusste in jener Sekunde, dass Knut guten Mutes war.
„Mein Junge, da bist du ja wieder. Die Sonne tut deiner Schramme im Gesicht gut. Die ist fast verschwunden.“
Tatsächlich war Knuts Sturz mit seinem „Rot Runner“ einige Tage vorangegangen und die kleine Blessur befand sich auf dem besten Wege der Heilung. Sobald Knut hingegen zurück an seinen Unfall dachte, stellte sich in ihm ein Gefühl der Unruhe ein. Wie war es möglich, dass er den Maulwurfshügel als nicht als Hindernis erkannte? Er ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er inmitten der Abfahrt unbemerkt seine Augen schloss. Und den Erdaushub einfach nicht kommen sah.
„Knut, hast du was gegessen? Hast du dir bei Omi einen Eierkuchen abgeholt?“
Knut nickte eilig, obwohl er mit seinen Gedanken nicht beim Mittagessen war. Werner bemerkte dies und schob, das Thema wechselnd, nach: „Und, wo soll dein Tipi stehen?“
Knut befand sich wieder in der Gegenwart und erzählte seinem Großvater mit kurzen Worten, warum sein neuer Unterschlupf neben dem Sandkasten errichtet werde sollte. Dabei verheimlichte Knut seinem Opa, dass er das Tipi später mit dem Kamin beheizbar machen wollte.
„Dann lass’ uns doch gleich loslegen, mein Junge!“
Knut nickte wieder zügig, diesmal mit einem sanften Lächeln gepaart. Werner hatte schon Wochen zuvor dünne Fichtenstämme und eine halbkreisförmige Plane besorgt. Damit stand dem Bau nichts mehr im Wege. Die beiden arbeiteten Hand in Hand und Knut bereitete es sichtlich Freude, seinem Großvater so nahe zu sein. Er schaute begeistert zu, wie das Tipi Stück für Stück zunehmend Form und Gestalt annahm. Werner wusste genau, was er tat, schließlich war er als Vorarbeiter im Baugewerbe tätig. Jede Schraube saß passgenau und Knut half motiviert beim Festhalten der Nadelholzstämme. Anschließend packten die beiden synchron die glänzende Plane und Werner befestigte diese mit kräftigen Hammerschlägen an den Haltesträngen. Nach nur vier Stunden war das Tipi fertig. Knuts neuer Unterschlupf ragte rund zwei Meter in die Höhe und seine schneeweiße Erscheinung konkurrierte mit dem gleißenden Sonnenlicht der zweiten Tageshälfte. Links neben dem Tipi strahlte der aufgeräumte Sandkasten und rechts thronten und wankten einige herrliche Sonnenblumen im schüchternen Sommerwind. Knut war glücklich. Er umarmte seinen Opa mit einem kindlichen, aber beherzten Druck und ließ Werner – über drei Dutzend Sekunden hinweg – nicht mehr los.
„Mein Junge, gern geschehen – gern geschehen.“
Werner hatte Tränen in den Augen. Zähren, die er ewig nicht mehr nach außen dringen ließ. Knuts Großvater berührte die Geste seines Enkels sehr. Knut war sein Ein und Alles, auch wenn er dies sein Leben lang nie aussprechen wird. Manchmal fehlen Worte auf diesem Planeten – vor allem dann, wenn sie von einem anderen Menschen dringend benötigt werden.
Rund zwei Wochen später saßen Thilo und Knut zusammen im Tipi. Der Nachbarsjunge hatte sich aufgedrängt und wollte Knuts Unterschlupf mit eigenen Augen besichtigen. Noch vor Tagen gelang es Knut, geschickt ausweichen, als Thilo ihn am Gartenzaun ansprach, ob er rüberkomme könnte. Knut erwiderte, dass er zuerst seinen Opa fragen müsste. Doch dieser wäre gerade nicht da, sondern zur Mühle unterwegs, um Haferfocken für die Hühner zu besorgen. Thilo zischte daraufhin sichtlich pikiert ab und spielte mit seinem blauen Metallbagger im Zwiebelbeet der Eltern. Die Dohle fog also weiter. Vorerst.
An diesem wolkigen Tag im August hockte Thilo in Knuts Tipi. Die beiden redeten nicht viel und der Platz im Zelt reichte gerade aus, um nicht in direkten Körperkontakt zu geraten. Thilo schien neidisch zu sein, dass Knut so ein tolles Tipi besaß. Immer wieder stichelte er gegen ihn.
„Hält