Weder Wikipedia, noch sonst ein Auskunftswerk traut sich, eine Zahl zu nennen, wie viele unterschiedliche Kulturen, Religionen und Weltanschauungen es gibt. Jede dieser Kulturen, Religionen und Weltanschauungen prägt Menschen, indem ihnen Vereinbarungen gegeben werden, nach denen sie ihr Leben ausrichten können, sollen oder sogar müssen. Und jeder Mensch für sich ist und bleibt ein Individuum, ein einzelnes einmaliges Ereignis, ein einzelnes einmaliges Leben - mit seiner einzigartgen individuellen Sichtweise auf sich selbst und die Welt. Äußeres Zeichen seiner Einzigartgkeit sind zum Beispiel sein Fingerabdruck und sein genetscher Code. Keine zwei der 7,8 Milliarden Menschen sind völlig identsch, selbst eineiige Zwillinge nicht.
Kommunikaton ist die Brücke, die Verbindung zwischen den Individuen, zwischen den teils gewaltgen, teils kaum merklichen, den beständigen und den flüchtgen Unterschieden zwischen Menschen und deren Wahrnehmungen und Sichtweisen. Angesichts der Fülle der Verschiedenheiten können die häufigen Fehlschläge in der menschlichen Kommunikaton kaum mehr verwundern.
Einer der hartnäckigsten und in seinen Auswirkungen fürchterlichsten ist das Gerangel um die „Wahrheit“, um das „objektv Richtge“, um das „Recht haben“. Viele Millionen Menschen sind dem schon zum Opfer gefallen und es waren nicht nur religiös motvierte Kriege, die so wahnsinnig viele Leben ausgelöscht haben.
Ob Militär, Religion, Wirtschaft oder Politk, ob Banker, Politker, Journalisten, Juristen, Päpste, Generäle oder der schräge Nachbar von Gegenüber - wir wissen schon längst, dass es „die eine Wahrheit“ nicht gibt, erleben das tagtäglich.
Wir wissen, dass alles, aber wirklich alles, was wir miteinander kommunizieren, lediglich Vereinbarungen sind und keine Wahrheiten. Und wir wissen, dass es sehr sehr viele Vereinbarungen zum gleichen Thema geben kann, je nachdem, wer sie trifft und was damit erreicht werden soll. Und natürlich ist eine Definiton, auch eine wissenschaftliche, nichts anderes als eine Vereinbarung.
Was hat das mit unserem Thema zu tun?
Alles.
Weil wir Sprache benutzen, um Krankheiten oder Störungen, Befindlichkeiten und Missempfindungen zu beschreiben. Und damit die entsprechenden Vereinbarungen meinen. Immer in der Hoffnung, das Gegenüber (Partner, Krankenschwester oder Arzt) kann mit unserer Beschreibung das „Richtge“ anfangen.
Weil es eine Definitonssache ist, was wir unter einer Abhängigkeitserkrankung verstehen wollen. Und Definitonen, auch Krankheitsdefinitonen, unterliegen nicht nur einer fachlichen Einschätzung, sondern auch dem, was man „Zeitgeist“ nennt (es gibt auch sogenannte „Modediagnosen“), Macht- und nicht zuletzt wirtschaftlichen Interessen. Das ist bei der Definiton der Abhängigkeitserkrankung nicht anders. Zu den wirtschaftlichen Interessen gehören übrigens nicht nur industrielle (z.B. Gerätehersteller), sondern auch Unternehmen, bei denen der finanzielle Gewinn nicht an erster Stelle stehen sollte (Krankenhäuser zum Beispiel), und natürlich ebenfalls Ärzteverbände, die Pharma-Industrie und jeder einzelne Arzt, der sein Unternehmen (Praxis) führt, das bei unausgewogener Betriebswirtschaft in die Pleite gehen kann.
Weil es einer Vereinbarung bedarf, wenn wir Akupunktur als Heilkunde bezeichnen (in diesem Fall einer juristschen Vereinbarung).
Weil das Image einer heilkundlichen Methode über die Jahre wechseln kann, genau so, wie das Image einer Krankheit. Zum Beispiel waren Depressionen lange nicht hoffähig, heute hat man fast den Eindruck, sowas wie eine kleine depressive Verstmmung gehört als Reakton auf die immer härter werdenden Alltagsanforderungen zumindest in der modernen westlichen Welt zur Standardausstattung psychischer Befindlichkeit.
Akupunktur hat sich von einer verschrienen Außenseitermethode mit Humbug-Image zu einer sehr ernst genommenen Alternatve manch klassischer Behandlungsmethode entwickelt. Und das insbesondere bei der Behandlung der Abhängigkeitserkrankung.
EINE ANDERE, ANGEMESSENE SICHT AUF DIE ABHÄNGIGKEITSERKRANKUNG UND INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN
Eben weil alles eine Frage von Vereinbarungen ist, muss ich Ihnen erläutern, wie meine ganz persönliche Sicht auf den Gegenstand dieses Buches ist: eine moderne Sicht auf die Abhängigkeitserkrankung und Interventonsmöglichkeiten.
Sucht
Sucht, Abhängigkeit, stoffliche Süchte, schädlicher Gebrauch, körperliche und psychische Abhängigkeit, Co-Abhängigkeit, substanzungebundene Sucht - oje, wer soll sich da noch zurecht finden?
Seit bald 40 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Abhängigkeitserkrankungen auf der praktschen Ebene. Ich darf sagen, dass ich in allen möglichen Bereichen gearbeitet habe: Streetwork, aufsuchende Arbeit, Drogenberatung, AIDS & Drogen, Drogenknast, statonärer Entzug, Kurzzeittherapie, Eingliederungshilfe, Amtsarzt, Psychiatrie, ambulante Therapie und anderes, vom ehrenamtlichen Helfer bis zum Chefarzt einer Fachklinik. Ich durfte sehr viel lernen. Vor allem habe ich einen pragmatschen Blick auf abhängig kranke Menschen und deren Umfeld gelernt, dies- und jenseits gängiger Definitonen. Ich habe gelernt, dass jeder Mensch seine Krankheit individuell durchlebt und eine individuelle Interventen braucht.
Chronisch-rezidivierende Erkrankung
Sucht/Abhängigkeit ist eine schwere und schwer zu therapierende chronisch-rezidivierende Erkrankung.
Chronisch bedeutet: es ist eine langwierige und langfristge Erkrankung, nichts Akutes, das schnell kommt und schnell wieder geht. Es gibt viele solcher Erkrankungen. Zum Beispiel Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Allergien, Schilddrüsenerkrankungen, Magen- und Darmerkrankungen, Hauterkrankungen. Manche begleiten uns ein Leben lang, manche stören kaum, manche sind sehr beeinträchtgend, manche sogar tödlich. Bei vielen chronischen Erkrankungen können wir etwas machen, um sie im Zaum zu halten, bei manchen sind wir hilf- und machtlos.
Der Verlauf chronischer Erkrankungen ist recht unterschiedlich. Einige verharren auf einem bestmmten Niveau und verändern sich nicht, andere werden von Jahr zu Jahr schlimmer und wieder andere haben einen rezidivierenden Verlauf.
Rezidivierend bedeutet: die Krankheit hat einen phasenhaften Verlauf. Es gibt Phasen, in denen der Mensch Symptome hat, schwer unter seiner Erkrankung leidet, akut krank ist. Bei der Abhängigkeitserkrankung bedeutet die Symptomphase: er konsumiert (Konsum-Phase, „Nass-Phase“ bei Alkoholikern).
Und es gibt Zeiten, Phasen, in denen der Mensch nichts oder nicht viel von seiner Erkrankung spürt (obwohl sie nach wie vor da ist), er aber nicht akut unter ihr leidet. Bei der Abhängigkeitserkrankung bedeutet das: er konsumiert nichts (Clean-Phase, Trocken-Phase bei Alkoholikern).
Beide Phasen sind obligatorischer Bestandteil einer chronisch-rezidivierenden Erkrankung. Bei vielen chronisch-rezidivierenden Erkrankungen können wir mit unseren heutgen medizinischen Mitteln die symptomfreie Phase ausdehnen und die Krankheitsphase mit Medikamenten mildern. Manche können wir auch heilen.
Die Abhängigkeitserkrankung wird durch Substanzen ausgelöst, die die Potenz haben, eine absolute Macht über den Menschen auszuüben, über seine Empfindungen, seine Wahrnehmungen, seine Reizverarbeitung, seine Sichtweisen, seine Gefühle, sein Denken, seine Handlungen. Das ist wirklich sehr umfassend und greift tef in den Menschen und seine Verhaltensweisen ein.
Die Substanzen veranlassen den Menschen zu zwanghaften Handlungen. Zwangshandlungen sind nichts Unbekanntes, wir kennen derart schlimme Erkrankungen zur Genüge. Zwangshandlungen sind solche, von denen wir meist zwar wissen, dass sie irgendwie nicht in Ordnung oder gar schädlich sind (z.B. Waschzwang, der auch nicht auffiört, wenn die Haut blutg und kaputt ist und schmerzt wie die Hölle), und wir auch gerne anders handeln würden, wir sie aber trotzdem tun müssen, wir haben keine Wahl - irgendetwas in uns (in diesem Fall die Macht der Substanz) ist stärker als jedes andere Regulatv. Diese Potenz ist von Substanz zu Substanz unterschiedlich groß. Und auch das gesamte Schadenspotenzial, das vom Konsum eines