Ich sage gar nichts und reiche ihr ein Taschentuch.
»Danke. Entschuldige bitte, dass ich …«
»Schhhh, schhhh, schon gut. Du musst dich nicht entschuldigen, alles in Ordnung.«
Eine Zeitlang sitzen wir beide schweigend da. Ulla trocknet sich die Augen und die Wangen, dann schließt sie die Augen. Sie atmet tief ein und langsam wieder aus, ein, aus, ein, aus.
»Ich werde es versuchen. Ich muss es einfach versuchen.«
Sie murmelt mehr, als dass sie spricht. Dann öffnet sie die Augen.
»Ich glaube, du hast recht, Martin, und ich danke dir sehr für deine Zeit, für deine Fürsorge gegenüber Harald und für deine Ehrlichkeit und dieses Gespräch. Ich sollte jetzt aber besser gehen.«
Sie betrachtet das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand.
»Darf ich vorher noch dein Bad benutzen?«
Ich nicke und deute zur Badezimmertür. »Klar.«
Sie steht auf und geht ins Bad. Der Wasserhahn rauscht. Kurze Zeit später kommt sie wieder heraus. Die Augen sind immer noch gerötet, aber sie wirkt frischer, gelöster, entspannter. Das traurige junge Mädchen ist verschwunden, aber Ullas Gesichtszüge sind nun weicher, freundlicher.
»Kann aber gut sein, das Hari heute erst spät oder gar nicht kommt. Mach dir keine Sorgen, Sina kümmert sich sich sicher gut um ihn.«
»Sina?«
»Ja, die Bekannte.«
Eigentlich wollte ich Sina nicht in die Geschichte reinbringen, aber dazu ist es jetzt zu spät.
»Ok. Sina. Ja, wenn du sagst, dass er gut aufgehoben ist … die Migräneschübe nehmen in letzter Zeit wieder zu. Armer Harald, mir tut er leid, ich stelle mir das grausam vor.«
»Ja, tauschen möchte ich nicht mit ihm.«
»Martin, ich danke dir für alles. Wir sehen uns!«
Ulla reicht mir die Hand. Ihre schmalen Hände sind kalt, aber der Händedruck angenehm fest.
»Keine Ursache. Mach’s gut, Ulla.«
Ich blicke ihr nach, bis sie im Hausgang um die Ecke biegt. Dannschließe ich langsam die Wohnungstür. Ich lasse das gerade Erlebte noch mal in meinem Kopf Revue passieren. Komplett surreal, irgendwie. Ich überlege, ob ich noch weiter Gitarre spielen oder am besten gleich ins Bett gehen soll. Oder mal Hari anrufen? Nö. Erstens wecke ich ihn, wenn er das Klingeln überhaupt hört, und zweitens: was soll ich sagen? Hi, ich bin’s, deine Schwester war übrigens gerade da und hat geweint? Das passt auch nicht.
Da gibt mir mein Magen unmissverständlich ein Signal, dass ich ihn schon zu lange vernachlässigt habe. Okay, auch eine Alternative. Ich gehe zum Kühlschrank.
Sina Keske, 2018-12-01
22: 37: 14
Als Sina nach der Spätschicht heimkommt, ist Harald nicht mehr da. Eine Andeutung von Eukalyptus und Menthol überdeckt das Aroma verbrauchter Luft. Sie legt den Mantel ab, zieht die Schuhe aus und stellt ihre Tasche auf den Tisch. Sie öffnet das Fenster. Dann füllt sie den Wasserkocher und schaltet ihn ein. Der Tee nach der Arbeit ist fast schon ein Ritual.
Während der Kocher leise rauscht, fischt sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Eine Sprachnachricht von Harald. Seine leise, etwas unsichere Stimme schallt aus dem Lautsprecher.
»Hallo Sina, ich bin’s, Harald. Es ist jetzt, äh, kurz nach halb neun. Ich bin wieder einigermaßen fit und werde jetzt nach Hause gehen. Nochmals danke für alles. Ich, äh, ja. Dann mach’s mal gut. Bis bald mal.«
Sina schmunzelt. Harald und seine Theorien. Haralds harmlose Hirngespinste. Wobei – harmlos? Das wird sich erst noch zeigen. Wenn er zu tief eintaucht, dann …
Der Wasserkocher signalisiert mit einem leisen Klacken, dass das Wasser kocht. Sina steht auf, nimmt sich eine frische Tasse, dazu die Dose mit dem grünen Tee aus der Schublade, befüllt das Tee-Ei und hängt es in die Tasse. Welche Temperatur das Wasser für den grünen Tee haben muss, wird unterschiedlich diskutiert und führt unter Teekennern nicht selten zu erbitterten Streitgesprächen.
Sina gießt das heiße Wasser in die Tasse. Sie tippt eine kurze Nachricht an Harald und schickt sie ab. Zwei Sekunden später erklingt aus dem Badezimmer ein ›Pling‹. Neben dem Waschbecken liegt ein Mobiltelefon. Haralds Handy. Sina grinst.
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