Nächster Versuch: Sportverein. Teuer und überaltert. Dreimal habe ich Stuhlgymnastik, Rumpfbeugen und Knie hoch mitgemacht, um dann festzustellen, dass ich Jahrzehnte zu früh gekommen war.
Dann gemischter Chor: Rentner, Witwen und Restposten wie ich. Liedgut der späten Vierziger.
Volkshochschulkurs Fotografie: Ich weiss jetzt, was Blende, Verschlusszeit und Tiefenschärfe bedeuten, aber alle, die ich gefragt habe, ob sie noch Lust auf ein Bier hätten, mussten leider sofort nach Hause, „gerne ein andermal“, „nee, mache ich eigentlich gar nicht“ bis hin zu Blicken, die einem Sittenstrolch würdig gewesen wären.
Letzter Versuch: Politik. Mehrere Parteien und Bürgerinitiativen habe ich aufgesucht, war aber immer schon ein Fremdkörper, bevor ich den Raum betrat.
Hängengeblieben bin ich bei einer linken Gruppierung, die insgesamt aus vierzehn Mitgliedern bestand und zunächst den Kapitalismus abschaffen und anschließend die ganze Welt retten wollte. Absolute Betonköpfe, unerträglich. Aber hier habe ich Heinz und Werner kennengelernt. Zwei skurrile Typen, die jedenfalls zuhören konnten und sich für mich interessierten. Offen für alles – Hauptsache nicht langweilig. Mit denen konnte man Bier trinken gehen. „Hopfenkaltschale“ wie sie es nannten. Es blieb aber nie bei einem Bier – oft auch nicht bei fünfen.
Ihre Stammkneipe hieß „Hinkebein“ und lag etwas außerhalb der Innenstadt Richtung Uni. Pido, der Inhaber, war – wie es damals noch hieß – Jugoslawe. Ob er eigentlich Serbe, Kroate, Montenegriner oder sonst etwas war, wurde nicht hinterfragt und wusste auch niemand.
Im „ersten Leben“ war Pido Fußballprofi. Als das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ging, hat er auf Wirt umgeschult.
Er strahlte eine ungemeine Ruhe aus und war absolut tolerant. Wenn es bei uns einmal später wurde, weil die Welt sich wieder einmal gegen das Gerettet-werden wehrte, stellte Pido ringsum die Stühle auf die Tische und überreichte uns den Kneipenschlüssel. „Geht bitte hinten raus – ihr wisst, wegen der Polizeistunde – schließt bitte ab und werft den Schlüssel in den Briefkasten. Bier und so könnt ihr euch so viel nehmen, wie ihr wollt. Aber macht bitte Striche auf ‚nem Bierdeckel oder legt mir Geld hin. Viel Spaß noch - und gute Nacht Jungs“. Sprach‘s und verschwand. Niemals hätten wir ihn auch nur um einen Pfennig betrogen. In Zweifelsfällen – und die gab’s zu Hauf – wurde ein Strich mehr gemacht. Vertrauen war ein hohes Gut, das man auf keinen Fall verlieren wollte.
Unsere Gespräche drehten sich um die großen Themen der Welt: Ein System, mit dem man jede Spielbank knacken kann. Die allgemeine und die spezielle Relativitätstheorie Einsteins. Wie kann man mit einer glühenden Nadel ein Zehnpfennigstück im Telefon einer Telefonzelle festhalten und dadurch daran hindern, in den Münzbehälter zu fallen, um so stundenlang Ferngespräche für zehn Pfennig führen zu können. Und ähnlich spannende Dinge.
Die zu späterer Stunde geführten Debatten waren einerseits hitziger als die davor. Andererseits konnte es gut sein, dass sie sich beim nächsten Treffen fast wortgleich wiederholten, weil sich niemand mehr an sie erinnerte.
Werner war kräftig gebaut und hatte längeres welliges Haar in „Grundfarbe“ – irgendwie von allem etwas. Zur obligatorischen Jeans trug er im Winter meistens Turnschule oder – bei entsprechend miesem Wetter - sogenannte Entenschuhe. Im Sommer ausschließlich Birkenstock-Sandalen. Irgendwann im Frühling, es muss wohl jeweils der erste oder der fünfzehnte April gewesen sein, erfolgte erbarmungslos der Schuhwechsel. Ich habe Werner auch mit Birkenstock-Sandalen im Schnee gesehen. Als wenn die Entenschuhe nur für ein halbes Jahr gepachtet waren.
Ständiger Begleiter durch alle Jahreszeiten war sein Parka – original von der Bundeswehr, Deutschlandfahnen auf den Ärmeln eigenhändig mit der Rasierklinge abgetrennt. Darunter immer einer von drei Pullovern, die ihm angeblich eine Freundin gestrickt hatte. Angeblich, weil sonst nichts über diese Frau verlautete und sie auch nie jemand von uns gesehen hat. Sie muss, ohne ein Wort zu sagen oder sonst aufzufallen, nur dagesessen und drei Pullover für Werner gestrickt haben. Danach ist sie dann spur- und kommentarlos verschwunden.
Der Wärmeausgleich zwischen Sommer und Winter muss bei Werner unterhalb des Pullovers per Flanellhemd, T-Shirt, beides oder keines von beiden stattgefunden haben. Ich jedenfalls habe Werner bei minus 10 und bei plus 30 Grad nie ohne einen der drei Pullover gesehen.
Sein Blick ist klar und offen – solange er nüchtern ist. Das war bei uns allen dreien nicht immer der Fall. Sein Gesicht ist eine einzige Kraterlandschaft. Vermutlich falscher Umgang mit Akne während der Pubertät.
Heinz ist der gegenteilige Typus: Schmal, fast mager, eher klein. Strähniges, glattes Haar, das immerzu nach Shampoo zu rufen scheint. Dabei ist dieser Eindruck vermutlich völlig falsch. Heinz ist außerordentlich sauber und pedantisch ordentlich – fast etwas überpenibel, wie man hier in Norddeutschland sagt.
Er läuft sommers wie winters im T-Shirt durch die Gegend, darüber so etwas, das man früher Anorak nannte.
Heinz verträgt mehr Bier als alle, die ich sonst so kennengelernt habe. Ich habe ihn nach vierzehn echten Halben kerzengerade stehen und über Hölderlin referieren sehen. Werner meinte: „Mit sieben Litern darf er die Dienstbezeichnung „Dromedar“ führen“.
Allerdings behauptet Heinz auch, er wäre schon mehrfach verdammt nah am Delirium Tremens gewesen. Zwar habe er keine weißen Mäuse gesehen, aber Micky Mäuse. Das habe wahrscheinlich daran gelegen, dass er zu der Zeit massig Comics gelesen habe.
* * *
Wie ich so in meinem Arbeitszimmer sitze, dreißig Jahre nach Werner, Heinz und „Hinkebein“, leicht angeschickert und ein bisschen schwindelig, fällt es mir wieder ein: Immer wenn ich leicht angeschlagen vom „Hinkebein“ nach Hause kam, habe ich mit dem verdammten Steckschloss gekämpft. Vor meiner Haustür war es stockdunkel, Taschenlampe besaß ich keine und das Schlüsselloch für den Steckschlüssel war winzig klein.
Wie habe ich laut geflucht. Während ich mich mit einer Hand am Türrahmen festhalten musste, versuchte ich mit der anderen, den Spezialschlüssel in die winzige Öffnung zu bekommen. Einmal öffnete sogar der stocksteife Dr. Baumstark von nebenan sein Fenster und dozierte mit hoher Fistelstimme: „Lassen Sie es gut sein, junger Mann, es ist drei Uhr morgens“.
Die Antwort, dass ich selbst eine Uhr hätte, hat ihm nicht gefallen und wir haben uns fortan nicht mehr gegrüßt.
Das Steckschloss war es, das meine Erinnerung zurück brachte.
* * *
Immer nur bei Pido zu sitzen und zu diskutieren wurde Werner, Heinz und mir hin und wieder langweilig. Mal wieder etwas unternehmen, rauskommen war dann die Devise.
Da fiel uns ein Flyer der Uni in die Hände: „In unserer Reihe ‚Erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen unserer Hochschule stellen sich vor‘, berichten diesmal fünf ehemalige Studentinnen und Studenten der Wirtschaftsfakultät unter dem Titel „Leistung muss sich wieder lohnen“ über ihre Karriere und ihren Weg ins Management. Beginn 20.00 Uhr; der Eintritt ist frei.“
„Da müssen wir hin“, waren wir drei uns einig. Werner, um die Welt zu retten, Heinz, um den Gegner zu studieren und ich, um einmal Abwechslung zu bekommen.
Gesagt, getan. Am folgenden Mittwoch saßen wir den fünf gelackten Schnöselinnen und Schnöseln im Audimax gegenüber, die sich für die neuen Lenker der Welt hielten. Sie auf der Bühne, wir mit geschätzt fünfzig Anderen im Zuschauersaal.
Der Vortrag war schaurig einseitig; die anschließende Debatte furchtbar. Werner steigerte sich auf eine nie gekannte Dezibel-Zahl. Unzählige Male musste ich ihn wieder auf seinen Stuhl zurückziehen. Heinz versuchte mit statistischen