Der Nebel von Cornish Cove. Oliver Erhardt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Erhardt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783347082878
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für seine kleineren Brüder geworden. Oft half er Mick bei den Hausaufgaben oder tröstete Benny wenn er Kummer hatte. Dann erzählte Dee ihm eine phantastische Geschichte, die er sich spontan ausdachte. Das konnte er besonders gut, denn er hatte eine lebhafte Phantasie. Manchmal schrieb er seine Geschichten auch auf und las sie in der Schule vor. Seine Klassenkameraden und auch seine Klassenlehrerin, die immer meinte er würde einmal ein Schriftsteller werden, mochten sie. Zum Schreiben brauchte er nur etwas Zeit, Zeit zum Träumen. Doch im Moment hatte er keine Zeit. Alle fünf Minuten stürmte jemand in sein Zimmer, denn einer von beiden Geschwistern hatte immer ein Problem, oder seine Mutter rief nach ihm, wenn sie Hilfe benötigte. Vielleicht würde es besser werden, wenn sie umgezogen waren. Aber ausgerechnet dorthin? Dee machte seinem Unmut Luft:

      „Warum ausgerechnet nach Cornish Cove?“, er konnte es wirklich nicht fassen, dass sie von London weg in dieses kleine Kaff am Ende der Welt zogen. Er saß beim Frühstück mit seinen beiden jüngeren Brüdern, die sich, so wie jeden Morgen, mit Müsli bewarfen, wenn der andere gerade nicht hinsah.

      Seine Mutter Margret, die alle nur Maggie riefen, stand am Ofen und machte Rührei. Sie pfiff so laut auf einem Finger, dass die Jungs zusammenzuckten. „Hört jetzt damit auf!“, rief sie laut aber nicht genervt und stellte eine Schüssel mit Rührei scheppernd auf den Tisch. Fassungslos starrte Dee noch mal auf das Display seines Handys. Er hatte Google Maps geöffnet und sich angesehen, wo Cornish Cove lag und was man über diesen Ort wusste. Klar, Dee liebte gruselige Seefahrer Geschichten und mysteriöse Orte und er kannte auch viele von den Sagen, wie die von König Artus oder Robin Hood, doch er bezweifelte, dass es hilfreich sein konnte an das äußerste Ende Englands zu ziehen, in einen Ort, der womöglich keine Schule hatte und wahrscheinlich auch kein Internet kannte.

      „Gibt es denn überhaupt Schulen in Cornish Cove?“, überlegte Dee und wollte gerade die Suchfrage in sein Handy eingeben, als ihm seine Mutter das Handy aus der Hand riss.

      „Schluss mit surfen, mein Großer“, sagte sie gutgelaunt.

      „Aber Ma“, rief Dee weinerlich. „Warum ausgerechnet Cornish Cove?“

      „Weil dein Vater einen neuen Job in Plymouth bekommen hat. Das weißt du doch. In Plymouth sind die Mieten aber zu teuer und Tante Mimi wohnt in St. Ives und dort ist auch eure neue Schule, das ist doch recht praktisch.“

      „Recht praktisch“, murmelte Dee vor sich hin. „Jetzt müssen wir auch noch nach St. Ives fahren, um in die Schule zu kommen.“

      „Leute, beeilt euch. Der Schulbus kommt in fünf Minuten“, rief Maggie und schob Mick und Dee ihre Schulbrottüten zu. Benny hatte Glück und durfte heute zu Hause bleiben, er hatte noch keine Ahnung wovon die anderen sprachen; ihm gefiel es umzuziehen und er mochte auch die grüne Landschaft, durch die sie ein paar Wochen später fuhren, als sie dem Südwesten Englands zusteuerten.

      Willkommen in Cornish Cove

      Dees Familie fuhr in dem Volvo voraus und er saß auf dem Beifahrersitz des Lastwagens der Umzugsfirma. Die hatte bereits alle Möbel in das neue Haus gebracht. Jetzt fehlten nur noch die Kartons mit Wäsche und dem anderen Kram. Dee hatte den Eindruck, dass sie mit jedem gefahrenen Meter weiter, immer tiefer in die Vergangenheit zurückreisen würden. Er hatte schon seit einiger Zeit kein Haus mehr gesehen, Strommasten konnte er auch keine entdecken, nur ein paar Wegweiser deuteten darauf hin, dass man auf diesem Weg noch irgendwann mit etwas Zivilisation rechnen konnte.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie an einem Ortsschild vorbei: „Willkommen in Cornish Cove, hier ist die Zeit stehen geblieben.“

      „Genau das habe ich erwartet“, murmelte Dee und der Fahrer sah ihn fragend an.

      Kaum hatten sie das hölzerne Schild passiert, wurde die Fahrt richtig ungemütlich. Der LKW holperte über das unebene Kopfsteinpflaster. Dee und der Fahrer hatten Mühe sich auf ihren Sitzen zu halten. Was für eine Straße, dachte Dee. Die ist wahrscheinlich so alt wie die Legenden dieser Gegend. Er blickte zerknirscht nach draußen und sah nur wenige Menschen auf der Straße. Niemand, auch keines der Kinder hatte ein Handy in der Hand. „Keine Handys, kein Mobilfunknetz, kein Internet“, folgerte Dee und seine Stimmung erreichte den Nullpunkt und so konnte er sich auch nicht für die Häuser begeistern, die eigentlich recht schnuckelig aussahen. Sie waren klein, hatten alle nur eine Etage und standen kreuz und quer verteilt, sodass es keine lange gerade Straße gab. Ein Schild kündigte den Hafen in einhundert Metern Entfernung an, doch Dees Vater bog vor ihnen nach rechts ab.

      Sie folgten dem Wagen und fuhren eine leichte Steigung hinauf und schlängelten sich durch die verwinkelten Gassen. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein, dachte Dee und kurz darauf blieben sie vor einem leerstehenden Haus stehen, das auf der rechten Seite eine Garage besaß. Das musste ihr neues Zuhause sein.

      An den Fenstern hingen keine Gardinen und draußen vor dem Haus stand eine große Eiche mit kräftigen Ästen, an der nur noch wenige Blätter hingen. An ihr lehnte ein Schild mit der Aufschrift: „Zu vermieten“, die rot durchgestrichen war. Doch irgendjemand schien in dem Haus zu sein. Dee meinte etwas hinter dem Fensterglas erkannt zu haben, als sich kurz darauf die Haustür öffnete, konnte er kaum glauben, was er da sah.

      Ein junges Mädchen mit langem rotbraunem Haar verließ das Haus und ging geradewegs auf den Volvo zu. Mick und Benny konnten es nicht mehr abwarten und rissen die Autotüren auf, rannten schreiend an dem Mädchen vorbei und stürmten ins offen stehende Haus.

      Dees Eltern, die mittlerweile auch ausgestiegen waren, sprachen jetzt mit dem Mädchen, das ungefähr in Dees Alter sein musste. Diese reichte seinem Vater einen Schlüsselbund: „Also Mr. und Mrs. Carpenter ich wünsche Ihnen dann einen guten Start in Cornish Cove. Wenn Sie noch Fragen haben sollten, meine Mutter, der das Haus gehört, betreibt das Café am Hafen. Vielleicht kommen Sie mal vorbei, bei ihr gibt es den besten Cornish Cove Cake.“ Sie lächelte und ihr Blick fiel auf Dee, der dazugekommen war. Sie schenkte ihm auch ein freundliches Lächeln, bevor sie schwungvoll auf ihr Rad stieg, das sie am hölzernen Gartenzaun angelehnt hatte. Dee spürte ein unbekanntes Kribbeln im Magen und sah dem Mädchen hinterher, das, ohne sich auf den Sattel zu setzen, davon radelte.

      „Ein nettes Mädchen, nicht wahr Dee“, meinte Maggie zu ihrem ältesten Sohn, der die Stimme seiner Mutter nur gedämpft hörte, aber er spürte, dass seine schlechte Laune plötzlich verflogen war.

      „Sehr reif für ihr Alter“, fand Dees Vater, John, der bester Laune war und seine Frau bei der Hand nahm: „Kommt, lasst uns unser neues Zuhause mal in Augenschein nehmen.“ Dee war wieder in der Realität angekommen und folgte seinen Eltern.

      Eins für drei

      Sie würden ab jetzt in einem dieser typisch englischen Häuser wohnen, die im Erdgeschoss nur drei Zimmer hatten, nämlich eine Küche im vorderen und einen Wohnraum im hinteren Bereich mit angrenzendem Arbeitszimmer. Über eine Treppe, die kurz hinter der Eingangstür gerade nach oben führte, gelangte man in die erste Etage. In der befand sich auf der rechten Seite das Schlafzimmer der Eltern und ein kleines Gästezimmer, ein Badezimmer lag gegenüber der Treppe und auf der linken Seite befand sich ein großer Raum mit Zugang zum Dachboden (den man mit einer Klappleiter in der Decke erreichen konnte). Dort würden die Jungs ein großes Kinderzimmer haben.

      Dee stand in der Tür und betrachtete das fertig möblierte Zimmer, in dem sich meterhoch die Umzugskartons stapelten. Ein Anblick, der sich ihm leider schon viel zu oft geboten hatte. Doch dieses Mal traf ihn der Schlag: „Nur ein Raum? Ich habe noch nicht einmal ein eigenes Zimmer?“ Dee kochte vor Wut, das hatte ihm noch niemand erzählt. Dann sah er seine kleineren Brüder, die schreiend durch die Betten tobten.

      „Ich schlafe im Hochbett oben.“

      „Nein, ich will oben schlafen.“

      „Dafür bist du noch viel zu klein.“

      „Ich will aber …“

      „Hört auf!“ Dees laute Stimme unterbrach die Zankerei. „Ich werde oben im Hochbett schlafen.“

      Seine Brüder hielten kurz inne, schauten zu Dee, der mit grimmiger Miene und verschränkten Armen vor der