Oliver Erhardt
Der Nebel
von
Cornish Cove
Auflage 1.0
Copyright © 2020 Oliver E rhardt
© 2020 Oliver Erhardt
1. Auflage
Geschichte:
Oliver Erhardt
Mit der freundlichen Unterstützung von:
Lisa Erhardt (Lektorat)
Elke Armborst (Umschlaggestaltung)
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Hardcover: 978-3-347-08026-3
ISBN e-Book: 978-3-347-08287-8
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Phantasie ist wunderbar. Wenn man viel Phantasie besitzt, kann man in Sekundenschnelle aus der realen Welt entfliehen. Man kann sich an andere Orte denken, die spannendsten Abenteuer erleben und da alles in der Phantasiewelt geschieht, kann einem dort auch nichts passieren… oder?
Cornish Cove
Das Unwetter, das den kleinen Küstenort Cornish Cove den ganzen Tag heimgesucht hatte, zog nun endlich auf den offenen Atlantik weiter. In dieser Jahreszeit war es normal, dass es öfter stürmte und kräftiger regnete, dafür war das Klima hier im Südwesten Englands sehr mild, sogar im November, sodass auch Palmen und Oleander wuchsen. Jetzt gegen Abend (so war es komischerweise meistens) lockerte sich die Wolkendecke auf und ein paar letzte Sonnenstrahlen tauchten den ehemaligen Fischerort in ein warmes Licht.
Mit dem Licht kam auch wieder Leben in den Hafen. Geschäfte öffneten ihre Türen und es wurden Schilder mit Sprüchen wie: „Der beste Cornish Cove Cake, nur bei uns“, aufgestellt. Ein älterer Mann, der schwerfällig ein Bein nachzog überprüfte die wenigen Fischerboote, die im Hafenbecken vor Anker lagen, auf Sturmschäden. Die Fischerei hatten die Menschen von Cornish Cove allerdings schon vor Jahren aufgegeben. Seitdem bekamen sie ihren frischen Fisch aus Plymouth. Dort war die größte Fischerverwertungsanlage Englands errichtet worden und die Seeleute gingen mit modernsten Booten auf Fischfang. Nur der Touristen wegen, von denen Cornish Cove mittlerweile lebte, hielt man eine Handvoll Fischerboote in Schuss. Sie machten sich gut auf Fotos und Postkarten und regelmäßig fuhr der alte Scott McCanzie, ein kauziger Seemann mit Kapitänsmütze und weißem Vollbart, die Touristen hinaus auf die See. Mit seiner tiefen Stimme erzählte er eine der unzähligen Sagen, die sich um diese Gegend rankten. Wie die von Merlin und König Artus, der der Sage nach hier gelebt hatte und am Totenbett versprach eines Tages hierher zurückzukehren. Oder er berichtete vom Fischfang vergangener Tage. Das mochten die Besucher am liebsten. Wie die Kinder hingen sie an Scotts Lippen und ihre Phantasie erwachte bei den alten Seefahrer Geschichten, die von riesigen Meeresungeheuern, gefundenen Goldmünzen oder Begegnungen mit Gespenstern auf offener See handelten. Seemannsgarn nannte man diese Geschichten und mit ihnen zog Scott McCanzie seine Zuhörer immer in den Bann.
Cornish Cove lag in einer sichelmondförmigen Bucht an der südwestlichsten Spitze Englands. Der Ort besaß einen breiten Sandstrand und war umgeben von einer immer grünen Landschaft sowie steilen felsigen Klippen, die das Bild dieser Gegend prägten. Auf der linken Seite der Bucht streckte sich langsam ansteigend „Lands End“, eine Landzunge weit ins Meer. An deren Spitze stand das Wahrzeichen des Ortes: der schneeweiße Leuchtturm mit dem kupfernen Dach, das jetzt im Licht der untergehenden Sonne hellgrün schimmerte. Unterhalb des Leuchtturms fielen die Klippen fast senkrecht ins Meer, das sich nach dem Sturm langsam zu beruhigen schien. Auch die 300 Meter lange Kaimauer, die von Lands End aus parallel zum Strand verlief, musste den Wassermassen nicht mehr trotzen, die den ganzen Tag über gegen sie geschlagen waren. Die Bewohner von Cornish Cove hatten sie zum Schutz der Bucht und ihrer Häuser, die direkt am Strand lagen, gebaut. Sie waren ineinander verschachtelt und so entstanden zwischen ihnen, im Lauf der Zeit, unzählige verwinkelte Gassen. In mehreren Reihen zog sich eine Spur von kleinen, einstöckigen Häusern am feinsandigen Strand entlang. Sie führte im Bogen um das kleine Hafenbecken herum bis zur rechten Seite der Bucht, wo ein Haufen von herabgefallenen Felsbrocken den Strand bedeckten. Dort endete die Häuserreihe und auch Cornish Cove. Nur ein einziges Haus folgte noch, das von Scott McCanzie. Eine Metalltreppe führte an den ineinander verkeilten Felsstücken hinauf, auf dem sich sein Haus befand.
Der nächstgelegene Ort war St. Ives. Eine einspurige Straße, die sich durch die einsame und stets windige Hochebene schlängelte, brachte einen von Cornish Cove nach sechs Kilometern Fahrt dorthin. Diese Route war bei den Touristen sehr beliebt, denn sie führte an endlosen, saftig grünen Weiden entlang und die Besucher bekamen den besonderen Charme dieser Gegend zu spüren, wenn sie urwüchsige Hecken, knorrige, vom rauen Wetter geformte Bäume und verwitterte Holzzäune, die die grasenden Schafe von der Straße fernhielten, zu sehen bekamen. Die Touristen gewannen den Eindruck, dass das Leben so einfach sein konnte, und dachten darüber nach, was ein Mensch eigentlich wirklich benötigte um glücklich zu leben. Diese Menschen hier schienen jedenfalls sehr zufrieden zu sein.
Es gab allerdings auch eine zweite Möglichkeit nach St. Ives zu kommen. Hatte man es eilig und war mutig genug, konnte man auch dem geschlängelten Pfad auf den steilen Klippen an der Küste entlang folgen. Dann erreichte man St. Ives schon nach vier Kilometern Fußweg. Allerdings taten das die wenigsten, denn in dieser Gegend hatte es erstens niemand wirklich eilig und zweitens wollte keiner ein Unglück heraufbeschwören. Es gab nämlich Geschichten von Menschen, die sich auf den Klippen Richtung St. Ives aufgemacht hatten, dort jedoch niemals angekommen waren. Sie verschwanden im Nebel und wurden nie wieder gesehen. Nur im Geräusch des Windes will so mancher eine Stimme der Vermissten gehört haben, oder des Nachts, wenn die dichten, seltsam leuchtenden Nebelschwaden lautlos vom Meer her auf den Ort zuwanderten und sich langsam in die verwinkelten Gassen bohrten, glaubten einige einen menschlichen Umriss erkannt zu haben. Solche Erlebnisse wurden dann aufgeregt im Pub erzählt und man konnte sich einer gespannten Zuhörerschaft sicher sein, denn dieser Nebel war das Einzige, wovor sich die Menschen von Cornish Cove insgeheim fürchteten.
Ansonsten waren sie rundum glücklich. Sie liebten die Natur, glaubten an das Übernatürliche und sprachen neben dem englischen auch einen keltischen Dialekt (wenn sie mal unter sich sein wollten), doch für gewöhnlich waren sie äußerst gastfreundlich und gesellig. Sie liebten ihr Land mit den sagenhaften Geschichten, lebten gern in und glücklicherweise auch von der Vergangenheit oder einfach so in den Tag hinein. Andererseits waren sie aber auch offen für neue, moderne Techniken. Sie hatten zum Beispiel im Landesinneren einige Windräder aufstellen lassen, die genug Strom für den kleinen Ort lieferten, was sie ein Stück weit unabhängig machte.
In einem Vorort von London
Unabhängigkeit hätte sich auch der zwölfjährige Dee gerne gewünscht. Er lebte mit seiner Familie fünfhundert Kilometer entfernt in einem Haus, in dem sich die Umzugskartons stapelten. Mal wieder. Sein Vater war abhängig von seinem Arbeitgeber und der hatte ihn überraschend in eine andere Stadt versetzt. Das war schon öfter vorgekommen und jedes Mal ist die Familie mit ihm umgezogen. Nicht immer war der Umzug eine Verbesserung gewesen, aber als sein Vater vor zwei Jahren nach London versetzt wurde, dachten alle, sie hätten das große Los gezogen.
Sie lebten zwar außerhalb der großen Stadt, weil die Mieten in London einfach nicht bezahlbar waren, doch Dee fuhr mit seinem Bruder Mick mit dem Schulbus in die Stadt und ging dort zur Schule. Benny, der Jüngste, ging noch in den Kindergarten. Sie fühlten sich in dem Vorort von London sehr wohl, denn die Stadt bot ihnen alles, was sie sich wünschen konnten, auch für ihre Zukunft. Dee dachte schon über seine Zukunft nach, denn er war reifer als andere Jungen in seinem Alter. Er wollte später unabhängig sein,