MAX
Ein Menschenstrom in Krachledernen und Dirndlkleidern walzte auf die Theresienwiese zu. Ausscheren und selbstständig einen eigenen Weg zum Oktoberfest zu suchen war nicht möglich, niemand konnte aus der Masse ausbrechen, selbst wenn er gewollt hätte. Aber das wollte natürlich keiner, alle ließen sich anstecken von erwartungsvoller Feierstimmung und schlenderten durch den Haupteingang, vorbei an zwei Carabinieri, die mit bewundernswerter Engelsgeduld die wichtigen und auch die nicht ganz so wichtigen Fragen ihrer Landsleute nach Wegen, Öffnungszeiten und Biervorräten beantworteten. Es sich hatte in langer Tradition zum mittleren Oktoberfestwochenende so ergeben, dass die Italiener beinahe ausnahmslos und perfekt organisiert in großen Gruppen angekarrt wurden. Irgendwann war die Münchner Polizei dazu übergegangen, mit den italienischen Kollegen zu kooperieren, deswegen reisten parallel zu den Bussen mit Feierlustigen auch ein paar Carabinieri an, die beider Sprachen mächtig waren und so die Völkerverständigung zwischen Behörden und Besuchern erleichtern konnten. München revanchierte sich als nördlichste Stadt Italiens am Italiener-Wochenende damit, dass im Radio sogar der Verkehrshinweis auf Italienisch vorgetragen wurde. Dennoch versuchte ein Wohnmobil mit italienischem Kennzeichen in der Feuerwehrzufahrt der Theresienwiese zu parken. Es war nicht zu fassen. Der erste war bereits ausgestiegen und begann einen Campingtisch aufzubauen.
Nebenan am Wiesneingang hielten ein paar Kollregen der Münchner Polizei Menschen mit Übergepäck an und bestanden auf einem Sicherheitscheck. Ein renitenter Zeitgenosse wurde an die Seite gezogen und auf interessante Mitbringsel abgetastet. Bei größeren Mengen Supermarkt-Bier wurden die Besitzer gebeten, diesen Treibstoff doch bitte bei der Gepäckaufbewahrung einzulagern, auch im Sportgeschäft neu erworbene Eispickel durften nicht mitgeführt werden.
„Ah!“, rief ein begeistertes Mitglied einer Trachtenkapelle angesichts zweier Schülerinnen mit einladendem Ausschnitt und kurzen Dirndlsaum. „Sicherheits-Check! Derf i o amal …“ Und streckte seine Finger Richtung Saum und Ausschnitt aus.
„Naa, derfst net!“ Klatsch, schon hatte er eins auf die Finger gekriegt wie ein kleiner Junge der Süßigkeiten stibitzen will. Seiner Laune schien das aber keinen Abbruch zu tun, er setzte weiter zur Verfolgung an, was auch die Mädchen mehr zum Kichern brachte denn abschreckte. Max schüttelte den Kopf. Me-too war offenbar nicht für alle ein Thema.
Darum brauchte er sich nicht zu kümmern. Gut so. Es reichte, dass Max überhaupt auf der Wiesn stehen und so tun musste, als würde er sich amüsieren. Er bahnte sich einen Weg entlang der Bierzelte, dahin, wo die Kollegin auf ihn warten würde. Links und rechts grölten, sangen, redeten und lachten Leute aller Nationen und in den schrillsten Outfits. Nur wenige Unverkleidete waren da, aber sonst alles, was man sich vorstellen konnte: lange Dirndl, kurze Dirndl, Mini-Dirndl, edle Tracht und Neon-Stoffe, offene Haare, Zöpfe, Kränze und alberne Seppl-Hüte. Auch die Männer trugen vom FC-Bayern-Trikot über traditionelle Trachtenhemden bis hin zu schmuddeligen Achselshirts alles, worüber man in Geschmacksfragen streiten konnte. Hinter den Bierzelten die riesige Kirmes mit Riesenrad, halsbrecherisch hohen Schleudermaschinen, Achterbahnen, Geisterbahnen, Würstchenbuden, Mandelständen und allem, was dazu gehört. Dazwischen Menschen, Menschen, Menschen – ein Paradies für faker. Genau das machte ihn unruhig, man hatte keine Ahnung, mit wem man es zu tun hatte, konnte nicht erkennen, ob ein Typ in teuren hirschledernen Hosen Banker oder Werber war. Oder ein abgebrochener Student oder Taxifahrer, der die Hosen geerbt oder geliehen hatte. Oder ein Kleinkrimineller, der sie irgendwem beim Kartenspielen abgezogen hatte. Andererseits reisten durchaus wohlhabende Amerikaner an und kauften sich für kleines Geld ein schlechtsitzendes Billig-Outfit in einem fragwürdigen Souvenirshop in Bahnhofsnähe. Auf Äußerlichkeiten brauchte man hier nicht zu achten, er musste sich ganz auf seine Menschenkenntnis verlassen, aufmerksam bleiben und beobachten, wer sich auffällig oder untypisch bewegte.
Kaum stand er im Bierzelt, da strandete ein nicht mehr ganz nüchterner Trachtenträger bei ihm, ein Mensch mit Mitteilungsbedürfnis. Mit starkem niederbayerischem Dialekt und glasigen Augen zählte er Max mehrere internationale Bekanntschaften auf: „die heiße Señorita“ und „des fesche Madl aus Russland oder Schweden oder was woaß denn i“. Schließlich beäugte er Max‘ Kollegin Susanne Werner, deren pinkfarbenes, tief ausgeschnittenes Dirndl und fragte, ob Max „auch schon die Handynummer von dem supergeilen Hasen“ hätte. Der beherrschte sich, laut loszulachen, sondern verkündete mit Blick auf seine Kollegin verschwörerisch: „Noch nicht, kann aber nicht mehr lange dauern“. Dafür erntete er ein anerkennendes Schulterklopfen und der Trachtler verzog sich dankenswerterweise. Sie hatten schließlich hier zu tun, auch wenn das nicht für alle zu erkennen war. Es gab Hinweise darauf, dass Drogenschieber aus Mailand mit einem Bus voller Feierwütiger hier angekommen und mitten auf dem Oktoberfest, quasi vor aller Augen seinen Geschäften nachgehen wollten. Anders als im legalen Business, wo bekanntlich hin und wieder Juxtouren als Geschäftsreisen verbucht wurden, war es in diesem Fall wohl andersrum. Hier sollten unter dem Deckmantel eines Freizeitvergnügens gesetzeswidrige Geschäfte abgewickelt werden.
5
„Juli, das wird ein richtig guter Abend! Du hast ein Dirndl an, meine Liebe, das eine super-sexy Taille macht – wusste gar nicht, dass meine alte Mutter so etwas besitzt! Und mit meiner himbeerfarbenen Schürze – Wow! Von deinem Ausschnitt will ich mal gar nicht reden. Da bist du heute Morgen gut beraten worden.“ Jule befühlte noch einmal das geliehene Dirndl und spürte selbst, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Ja, das Kleid sah wirklich gut aus, es saß perfekt, es kniff und zwickte nichts, wie für sie gemacht. Sie fühlte sich wohl darin, kein bisschen verkleidet, so konnte sie sich wirklich sehen lassen. Ganz abgesehen davon, dass so ein selbst zusammengestelltes Dirndlkleid den Vorteil hatte, dass nicht zwanzig andere dasselbe trugen. Das diesjährige Tchibo-Modell hatte sie in der letzten Viertelstunde schon mindestens dreimal gesehen.
„Stopp! Hier irgendwo wären wir jetzt mit denen verabredet.“
Jule sah sich um. „Du, da stehen zwei. Einer hat gerade zu uns rübergezeigt. Jetzt dreht er sich weg und der andere winkt. So ein Trachtendepp mit Hut.“
„Trachtendepp? Julchen, hast du dich mal im Spiegel angesehen?“
„Ist das … ist das ein Kumpel von Lorenzo?“
„Schon wieder Italiener in Tracht … Herrschaftszeiten!“
„Aber wo ist der Patient von heute Morgen?“ überlegte Jule, als sie näherkamen. War Lorenzo auch in Tracht? Ein paar Meter neben dem winkenden Italiener stand ein dunkelhaariger Mann, ebenfalls in Lederhose, aber immerhin ohne Hut. Er drehte ihnen den Rücken zu, betrachtete konzentriert seine Schuhe und sprach in sein Handy.
Als er auflegte und sich umdrehte spürte Jule, wie ihr Herz schneller schlug. Sie sah mitten in Lorenzos dunkle Augen. Er lächelte sie an. „Ciao Giulia.“ Küsschen rechts, Küsschen links.
„Hallo.“ Mehr kriegte sie gerade nicht heraus. War sie wieder siebzehn? Dr. Plüschauge hatte recht gehabt, Lorenzos Pupillen waren noch immer sehr groß. Und sehr schwarz. Und sehr schön. Egal. Sie holte nochmal tief Luft. Mochte er auch arrogant sein und unzählige andere schlechte Eigenschaften haben, für diesen Nachmittag war er eine angenehm anzusehende Begleitung. Und um nichts anderes ging es doch, oder?
Jule löste ihre Augen mit einiger Anstrengung von den seinen, um den ganzen Mann in Augenschein zu nehmen, während er Veronika ebenfalls mit Wangenküsschen begrüßte. Neben seinem Onkel, der deutlich kleiner war als Jule, hatte er ziemlich groß gewirkt, aber neben diesem blonden Riesen, der ungefähr zwei Meter groß war? Vor allem aber sah Lorenzo sportlicher aus als sein Freund. Unterhalb der Lederhose sah man sonnengebräunte Knie und gut trainierte Waden. Obenrum trug er ein Hemd mit kleinen grünen Karos, das zu seinen kurzen dunkelbraunen Locken wirklich richtig gut aussah. Wahrscheinlich wusste er das auch. Und er sah Jule mit unverhohlener Neugier an.
Der blonde Riese, der zwar freundliche blaue Augen hatte, aber auch ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, streckte die Hand aus.