Der Dolmetscher kam mit Frau und Sohn im Gefolge dazu. Schnell wurde dem Mann erklärt, wer diese deutschen Menschen seien. Dann eine Reaktion, die vollkommen unerwartet war. Der alte Mann umarmte den Sohn und sagte: „Bitte kommt immer wieder. Ich stand im Panzer, als wir in Königsberg einrückten. Es war eine schreckliche Trümmerwüste mit unendlich vielen toten Menschen.“ Dabei liefen ihm Tränen über die Wangen. „Ihr müsst immer wieder kommen. So etwas darf sich nie wiederholen.“ Fritz war tief berührt von dieser Begegnung.
Jetzt ging es nach Wargienen. Es war keine lange Fahrt. Da erschien vor seinen Augen der Pillenberg, mehr ein Hügel, und gleich danach konnte man schon von Weitem den Pferdestall sehen, an den so viele Erinnerungen geknüpft waren. Er schien unverändert.
Die Hofeinfahrt gab es noch. Das Elternhaus auch. Allerdings war das Obergeschoss abgetragen. Die Hecke und die Kastanienbäume gab es nicht mehr. In dem ehemaligen Büro seiner Eltern stand in einer Ecke die Wahlurne für die erste freie Wahl des russischen Präsidenten. Ach, der Kuhstall und der Kutschstall mit dem Storchennest standen noch, und auch die Schmiede war völlig unbeschädigt. Es war für ihn, als sei er erst gestern dort gewesen, nur die Birken an der Schmiede gab es nicht mehr, auch keine der großen Scheunen. Den Teich hatte man zugeschüttet. Wargienen war inzwischen eine Kolchose, das Elternhaus „Haus der Freundschaft“. Sein Schulweg war betoniert. Das ungeliebte Schulhaus stand noch, nur die Fenster des früheren Klassenzimmers waren zugemauert. Vor dem Haus saß eine Katze und sonnte sich. Die Kleinbahn gab es nicht mehr, aber das Transformatorenhäuschen auf der Weide stand noch so da wie früher. Tränen stiegen Fritz in die Augen. Er umarmte seine Frau. „Georgie, hier war ich so glücklich.“
Jetzt noch nach Trömpau. Die Stallgebäude waren noch alle da. Das herrschaftliche Gutshaus sei vor wenigen Jahren einfach in sich zusammengestürzt. Ursache sei gewesen, dass die Kellerräume als Salzund Kalilager gedient hatten. Das Zeug habe die Fundamente zerstört, sodass erst vor wenigen Jahren das große Gebäude krachend in sich zusammengefallen sei. Hier und da wuchsen Birkenbäumchen und Sträucher aus dem Trümmerberg heraus. Das Gärtnerhaus gegenüber dem Herrenhaus gab es noch, und die wunderbaren großen Rotbuchen im ehemaligen Park des Gutshauses standen auch noch. Der Park war hoch mit Unkraut überwuchert. Irgendwo darin befände sich das Grab des letzten Verwalters von Trömpau. Es war ein Deutscher. Ein guter Mensch sei er gewesen. Eine ältere Russin kam aus dem Schweinestall. Sie hatte nur noch einen Zahn und war ganz gut beleibt. Sie hatte rosige Wangen und das Haar unter einem Kopftuch versteckt. An ihren Gummistiefeln hing frischer Schweinemist. Ihre Schürze sah nicht besser aus. Sie erzählte: „Wir hatten hier einen Deutschen, als wir nach Trömpau kamen. Wir alle hatten Hunger und machten eine ganz schwere Zeit durch. Er hat alles mit uns geteilt und uns vor allem sehr beschützt. Ich würde ihn so gerne noch einmal wiedersehen und mich noch heute bei ihm bedanken.“ Heinrich habe er geheißen. Sein Familienname war Opfer der Vergessenheit. So sehr sie sich anstrengte, sie kam nicht mehr drauf, auch sonst niemand, der ihn kannte.
Viele andere Erinnerungen wurden wach. Vor allem an die Omi Denks. Wenn Fritz in Trömpau war, kümmerte sie sich liebevoll um ihn. Sein Zimmer lag gleich neben ihrem Schlafzimmer. Manches Mal schlüpfte er in ihr Bett. Dann las sie ihm Geschichten vor. Jeden Abend stellte sie ein Tellerchen mit geschälten Apfelstücken ans Bett. Es gab eine Gärtnerei mit einem Gewächshaus. Wie oft war er dort und durfte Tomaten pflücken, Radieschen ernten und Himbeeren gleich vom Strauch verzehren. Bis auf Großvater mochte er Trömpau sehr.
Übrigens züchtete Großvater Remonten (Pferde für die Wehrmacht) und viel Vieh. Er verkaufte nur an Juden. Als es die nicht mehr gab, weigerte er sich, an Nazis zu verkaufen. Nicht ein Stück bekamen die von ihm. Das brachte ihm große Schwierigkeiten ein. Allein Vater war es zu verdanken, dass das keine größeren Folgen hatte.
Von dort ging es nach Rauschen und Kranz, zwei Ostseebädern. Die waren damals sehr beliebt. Manches erkannte Fritz wieder. Zurück nach Königsberg. Der Dom stand noch. Innen ein Trümmerfeld. An einer Außenmauer das Grab von Immanuel Kant mit einer Gedenktafel. Immer wurden dort frische Blumen niedergelegt. Bis heute wird er verehrt von der russischen Bevölkerung. Er, dieser Deutsche, der Königsberg niemals verlassen hatte, ist noch immer lebendig bei den neuen Bürgern Königsbergs, vor allem in der Universität. Ja, und dann stand da noch die frühere Börse ganz unbeschädigt, und das Geburtshaus von Fritz gab es auch noch.
Nach einem Besuch im Hafen ging es wieder zurück nach Moskau. Der gebuchte Schlafwagen war von bewaffneten Soldaten besetzt. Sie fuhren mit, weil es inzwischen häufiger vorkam, dass Züge auf freier Strecke von Banditen angehalten und ausgeraubt wurden.
Fritz hatte das Ergebnis eines furchtbaren Krieges nachempfunden. Zorn und Wut stiegen in ihm auf beim Gedanken an die Tatsache, dass ein Mann, der offensichtlich vom Wahnsinn besessen war, noch dazu ein Österreicher, ganz legal Reichskanzler werden konnte, denn ja, – er war demokratisch gewählt worden. Für Fritz sind die heutigen Nazis und die sie tragenden Parteien Volksverräter. 12 Millionen Flüchtlinge, 6 Millionen in den KZs ermordet. Millionen Kriegstote. Angesichts dieser Katastrophen ist Fritz fassungslos, wenn er sieht, dass es wieder Parteien gibt, die dem Verbrecher von damals huldigen. Es spricht den Opfern Hohn, sie alle werden von solchen Typen entehrt. Es empört ihn entsetzlich, dass der Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag der AfD von einem Vogelschiss der Geschichte sprach.
Zorn, Trauer und Wehmut mischten sich. Fritz kann nicht verstehen, dass wieder so viele Menschen diesen Rattenfängern nachlaufen und sie auch noch wählen. Vater hatte das zu spät erkannt und sein Bruder, der sich mit Graf von der Schulenburg und den anderen Widerständlern einig wusste, fiel zu früh. Gerne wäre Fritz wieder zurückgekehrt nach Ostpreußen, in das Land seiner Sehnsucht. Die Umstände seines Lebensalters ließen ihn erkennen, dass es dafür nun zu spät ist. Aber die Heimat lebt noch immer tief verborgen in seinem Herzen.
Erste Flucht
Der Winter 1944/1945 war bitterkalt. Mutter und Großmutter wurde es langsam zu gefährlich in Ostpreußen. Sie beschlossen, dass Großmutter mit den Kindern Wargienen verlassen soll. Mit der Kleinbahn ging es nach Königsberg. Auf dem Gleis am Bahnsteig stand ein langer Zug mit einer großen Dampflok davor. Großmutter trug ihre Dienstuniform, die Tracht einer Schwester des Roten Kreuzes, als sie Fritz samt Schwester abholte. Mutter blieb da. Sie sagte, sie müsse sich hier um die Menschen kümmern, für die sie verantwortlich war.
Der Zug war überfüllt. Nichts ging mehr rein noch raus. Es hieß, es sei der letzte Zug, der Königsberg verlassen würde. Verwundete Soldaten sahen die Rotkreuzschwester und riefen: „Reichen Sie uns die Kinder durch das Fenster!“, was auch geschah. Fritz fand sich samt seiner drei Jahre alten Schwester im Gepäcknetz wieder. Wie durch ein Wunder war Großmutter am Eingang des Abteils zu sehen. Als der Zug pfeifend aus dem Bahnhof fuhr, ahnte Fritz, dass sein Leben nie mehr so sein würde wie in seinem geliebten Wargienen.
Der Zug fuhr ohne Halt nach Westen. Es hieß, das Ziel sei Stettin. Unterwegs hielt er plötzlich mit kreischenden Bremsen auf freier Strecke, so als habe jemand die Notbremse gezogen. „Raus, raus! Tiefflieger kommen!“ Wer konnte, kroch wie die beiden Geschwister unter den Wagon. Im Schnee liegend hörten sie voller Angst Flugzeuge und Maschinengewehrfeuer. Als die Tiefflieger weg waren, hieß es schnell einsteigen. Es schien, als ob die drangvolle Enge etwas weniger eng geworden war. Es mussten wohl Menschen getroffen worden sein. Einige waren verletzt. Großmutter kümmerte sich um die Verletzten so gut es ging. Nach einigen Stunden kam der Zug in Stettin an. Großmutter und die beiden Kinder wurden vom Bahnhof mit Pferd und Wagen abgeholt. Es ging auf ein Gut, das einer Familie von Steinecker gehörte. Das seien Freunde von Vater, hieß es. Dort in Pommern blieben sie einige Zeit, bis es hieß, die Russen kommen. Steineckers wollten noch nicht trecken. Man konnte schon Kanonendonner hören, da wurde es Großmutter zu viel. Sie erbat Pferd und Wagen, um über die Oder zu fahren. Dort angekommen wollte man sie nicht mehr hinüberlassen, weil die Brücke gesprengt werden sollte. Schließlich hieß es: „Schnell, schnell, rüber, Schwester!“ Dann flog die Brücke auch schon in die Luft.