Doch im Grunde genommen hatte er es relativ gut erwischt. Dienstzeiten von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und an den Freitagen bis drei Uhr. Dabei fünf Wochen Urlaub im Jahr bei vierzehn Gehältern. Und nachdem er bereits seit mehr als zehn Jahren in diesem Unternehmen arbeitete, fiel er bereits in die dritte Lohnstufe der internen Bonuszahlungen. Somit also ein solider Rahmen. Wenn er sich überdies nicht ganz dämlich anstellte, dann würde nächstes Jahr sein Urlaubskontingent sogar auf sechs Wochen erhöht werden. Bezahlt, verstand sich. Alles in allem war seine Arbeitsstätte demnach so etwas wie eine Insel der Seligen im weiten Meer der vielen anderen unglücklichen Arbeitssklaven.
Zuhause durfte er das natürlich nicht zu laut herausposaunen. Hier musste der Eindruck geweckt werden, dass die Arbeit unmenschlich und kolossal anstrengend wäre. Hier hatte der Job als unglaubliche Belastung verkauft zu werden. Die Belohnung dafür war hin und wieder abendlich auf der Couch den Opferstatus genießen zu können und sich der Rolle des Lakaien entledigen zu können. Und wenn es ab und an auch noch einen frei erfundenen Stau bei der Heimfahrt gab, dann war ihm vielleicht sogar der gewünschte Fernsehkanal sicher. Ja, in der Art hatte er sich seine Vorteile und Freiräume zu schaffen. Mit inszenierten Geschichten und kleinen Lügen.
Er passierte den Bahnhof, wo nebst Zugverkehr auch das öffentliche Busnetz der Innenstadt zusammenlief. Schon als Kind wusste er, dass hier der Dreh - und Angelpunkt von Linz war. Wenn damals die angekündigte Verwandtschaft abzuholen war, dann war sie hier zu holen. So etwa, wenn Tante Birte und Onkel Detlev aus dem deutschen Bremerhaven per Zug zum unverhofften Besuch anreisten. Diese Stippvisiten der “Piefke - Bagage“, wie sein Vater sie abschätzig zu nennen pflegte, markierten dann den Punkt, an dem er verstimmt in das Auto stieg und sie hier in der großen Bahnhofshalle in Empfang nahm.
Doch auch wenn Onkel Adi aus Sandl sich mit dem Bus ankündigte, traf man sich hier. Der lustige Onkel Adi mit dem schmucken Oberlippenbärtchen und den schwarzen Springerstiefel. Und meistens im Schlepptau seine noch lustigere Tante Eva, die immer lauter lachte, je später der Abend wurde. Zu fortgeschrittener Stunde konnte sie sogar in einer Fremdsprache reden. So dachte er als Kind zumindest. In Wirklichkeit war sie nur zu betrunken, um noch einen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen. Das wusste er heute. Aber ganz gleich, wer mit Bus oder Bahn kam, hier war immer die Zusammenkunft.
Und exakt hier, an diesem Bahnhof, hatte auch er einige Jahre später viele seiner Stunden zugebracht und seine großen Lebensträume geschmiedet. Wie oft saß er in Zukunftsvisionen versunken an den Bahnsteigen und wartete zu, dass sein Zug ihn zu den Vorlesungen an der Universität brachte. Wie viele Male hatte er die Lautsprecherdurchsagen gehört, während er in der Wartehalle über seinen Skripten und Büchern brütete. Und für was? Für dieses Leben, das schon so gebraucht daherkam? So gelebt?
Eine Hupe riss ihn kurz aus den Gedanken. Ein Kleinwagen war mit einem Laster touchiert und blockierte die Gegenseite der Fahrbahn. Überall lagen Glassplitter und Blechteile. Eine Frau saß weinend am Straßenrand. Sie gestikulierte wild und war völlig aufgelöst. Scheinbar war es ihr Auto, das nun reif für die Schrottpresse dastand. Die Motorhaube war keine Motorhaube mehr, sondern glich vielmehr einer aufgerollten Sardinenbüchse. Das Blech faltete sich überall zusammen und aus dem Innenraum qualmte und nebelte es heraus. Doch zumindest schien der Frau nichts passiert zu sein, so energisch wie sie den Fahrer mit Schimpfwörtern aller Art bedachte. Edgar schüttelte nur den Kopf und reihte sich auf der Spur zum Gewerbepark ein.
Ursprünglich wäre ohnedies alles ganz anders gelaufen für ihn. Ursprünglich säße er heute nicht in einem grobgepolsterten Bürosessel, sondern in einem lederüberzogenen Chefsessel, in dem nur er bestimmen würde, wem eine sechste Woche Urlaub gebühren würde. Doch wie so vieles in seinem Leben war auch dies nur ein geplatzter Traum im Becken voller herber Enttäuschungen und Illusionen. Er sollte damals in die Jagd - und Sportgerätefirma seines Bruders Henrik einsteigen. Er hätte mit ihm gemeinsam den österreichischen Markt mit Jagdgewehren, Sportbögen oder Fischereibedarf bedienen sollen. Er hätte einen tollen Job. Doch er war es letztlich, der durch die Finger schaute und nichts vom Kuchen abbekam.
„Willkommen im Land der Versager“, ratterte es in seinen Windungen, „der einzige Einwohner hier bist du!“
Und das alles, weil ihm nebst vielen Stärken leider auch eine große Schwäche mit auf den Lebensweg gegeben worden war. Eine fast grenzenlose Toleranz gegenüber den Frauen dieses Planeten. Konnte er noch so rational, clever und durchdacht an gewisse Sachen herangehen, so gefühlsgeleitet und infantil war er, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Als würde sich ein lauwarmer Mister Hide aus dem sonst so kühlen Doktor Jekyll schälen, um sich selbst den Garaus zu machen.
So auch im Falle seiner letzten großen Liebe Yvonne, die das Band zwischen ihm und Henrik jäh zerschnitt als er erfuhr, dass sie ihn mit ihm betrog. Sie, die ihm immer vorgaukelte ihn innig zu lieben und zu unterstützen, wo es nur ging. Sie, die nur Augen für ihn hätte und nur allzu gerne mit einem Ring am Finger die Beziehung auf eine höhere Ebene gebracht hätte. Sie, die sogar Kinder von ihm haben wollte. Geradewegs sie zeichnete sich damals verantwortlich dafür, dass seine Welt in Trümmern lag. Trümmer, die auch die Beziehung zu seinem Bruder begruben. Wie sollte er ihm noch länger in die Augen sehen können? Einem Menschen, der allem Anschein nach dachte, Wasser sei dicker als Blut. Gar nicht. Und so trug es sich auch zu, dass er seit mehr als zwanzig Jahren schon keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.
Er lebte sein eigenes Leben. Ein Leben mit Lydia, zwei Töchtern, einer Eigentumswohnung am Römerberg und seinem Job als Bereichsleiter bei Stratham - Machines. In diesem Betrieb fühlte er sich auch wohl und seine Arbeitskollegen waren ihm über die Jahre hinweg direkt an das Herz gewachsen.
Allen voran Tristan, ein anderer Angestellter dieser Firma. Er hatte seine Sympathie damals im Handumdrehen gewonnen, als er erfuhr, dass auch ihn das Schicksal nicht gerade mit glückseligen Momenten überhäuft hatte. Auch er hatte eine unliebsame Trennung hinter sich. Und auch bei ihm spielte ein Mitglied der Familie dabei eine entscheidende Rolle. Nur, dass es in seinem Falle nicht der Bruder, sondern vielmehr sein Vater war. Sein eigener Vater war es, der ihm seine damalige Partnerin abspenstig machte und sie letzten Endes sogar vor den Traualtar führte. Ja, solch kühne und abstruse Späße mochte das Leben zeitweilig spielen. Im Gegensatz zu ihm hatte Tristan sich von diesem Spaß jedoch nie wieder erholt und schwor der Frauenwelt seitdem zur Gänze ab. „Lieber ohne Frau und nur halbwegs glücklich, als mit Frau und todunglücklich“, so seine Maxime.
Edgar bog rechts ab und fuhr auf das Firmengelände. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönte ihm die Stimme aus dem Navi entgegen. Wie automatisch steuerte er seinen Parkplatz an. Dann ging er über das halbleere Areal hin zum Hauptgebäude. Die Schotterkörner dort pressten sich in die Rillen seines Schuhabsatzes. Jeder Schritt wurde von einem Knacken begleitet. Doch plötzlich hörte es auf zu knacken. Edgar blieb stehen und sah auf seinen Absatz. Er war in Hundekacke getreten. „Na, das passt ja zum heutigen Tag wie die Faust aufs Auge“, murrte er angewidert. Dann putzte er in der Wiese notdürftig seinen Schuh ab und ging weiter zum Eingang, wo schon Tristan beim Kaffeeautomaten auf ihn wartete. Er hatte sich auch bereit erklärt für die nächsten paar Tage den Journaldienst zu übernehmen. Warum auch nicht? Er hatte Zeit im Übermaß und niemand wartete auf ihn zuhause. Da sah er den Zusatzdienst sogar eher als Aufbesserung seines Kontostandes, denn als Belastung an.
„Salve, du Sack“, überfiel er Edgar gleich mit einem verschmitzten Lächeln. „Und, hast du deine Urlaubsvorbereitungen schon abgeschlossen? Oder wisst ihr immer noch nicht wohin die Reise gehen soll?“
Er reichte ihm einen Pappbecher mit Cappuccino, als er plötzlich die Nase rümpfte.
„Sag mal, hier riecht es, als hätte sich jemand angekackt. Das ist ja ekelhaft. Riechst du