Verräter. Can Dündar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Can Dündar
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Социальная психология
Год издания: 0
isbn: 9783455001891
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      Zum ersten Mal seit Monaten.

      Ich lasse vom Himmel den Blick über die Erde schweifen und erinnere mich an die Zeit vor drei Monaten:

      Von einem Gefängnishof schaute ich zu den Flugzeugen am Himmel auf. Wie hoch und groß wirkte die Mauer, wie fern und klein das Flugzeug!

      »Ob ich je wieder im Flugzeug sitzen und in die Ferne fliegen kann?«, seufzte ich damals.

      Gezählte Tage vergehen, schlimm aber ist die Ungewissheit. Ein Lebenslänglicher kommt womöglich nie wieder frei.

      Nun aber schaue ich aus dem Flugzeug auf die Landschaft unter mir. Ich halte Ausschau nach Silivri, nach dem Land der Gefangenschaft, in dem ich drei Monate logierte. Aus der Luft wirkt die Mauer niedrig und klein, das Flugzeug, in dem ich sitze, dagegen groß.

      Schauen wohl jene, die jetzt dort im Gefängnis auf einem der Betonhöfe von vier mal acht Schritt stehen, zum Himmel hinauf?

      Ob sie das Flugzeug sehen und dabei seufzen?

      Im Grunde ist weder das Flugzeug extrem fern noch die Mauer extrem hoch.

      Glauben und Hoffnung bestimmen unsere Wahrnehmung von Dimensionen.

      Ohne Glauben und ohne Hoffnung kommen einem die Mauer höher und die Freiheit ferner vor, als sie tatsächlich sind.

      Hoffnung indes verkürzt die Ausmaße der Mauer, die Entfernung des Himmels, den Weg zur Freiheit.

      Der Glauben überwindet die Mauer und rückt die Ferne näher.

      Und eines ist sicher:

      Was dich nicht umbringt, macht dich stark.

      2 Trennung

      Wenn Sie mit jemandem, den Sie mögen, zusammengesessen und geplaudert haben, verabschieden Sie sich vielleicht mit den Worten: »Wir sehen uns!«

      Aber Sie sehen sich nicht wieder.

      Es ist das letzte Treffen, ohne dass Sie es ahnen.

      Hätten Sie es gewusst, wären Sie vielleicht länger geblieben, hätten sich jedes Wort des anderen genau eingeprägt, seinen Duft in sich aufgenommen, ihn ausgiebig umarmt, wären womöglich gar nicht gegangen; doch es ist zu spät.

      Das tut weh.

      Als Dilek, unser Sohn Ege, der in England studiert, und ich am letzten Junitag 2016 in London zusammen waren, ahnten wir nicht, dass dies unser letztes Treffen vor einer sehr langen Trennung sein würde. Nach einem Interview beim Guardian machten wir es uns auf Liegestühlen draußen vor dem Zeitungshaus bequem, schauten den Enten auf dem Kanal zu und tranken unser Bier, während die zarte Londoner Sonne unsere Haut streichelte. Während meiner Haft hatten wir drei außer an wenigen offenen Besuchstagen nicht zusammen sein können. Nach unserem Treffen in London sollte es dann wieder nahezu unmöglich werden, zusammenzukommen.

      Wir sprachen an jenem Tag nicht von der unerfreulichen Vergangenheit, von Haft und Trennung, sondern von der Zukunft, von der Lage in der Türkei und der Welt. Vermutlich waren wir aber alle in Gedanken bei anderen unerfreulichen Ereignissen, über die wir nicht reden wollten:

      Die Polizei hatte plötzlich die Personenschützer abgezogen, die sie nach dem Attentat auf mich bewilligt hatte.

      Meine Zeitung hatte mir ein Schloss vor die Tür gehängt: »Die Drohung ist ernst, wir müssen Maßnahmen treffen.«

      Die Bank verkündete, der zuvor bewilligte Hauskredit werde vermutlich storniert werden. Wir saßen auf Schulden.

      Von der Staatsanwaltschaft war die Vorladung zu einem neuen Prozess gekommen.

      Die regierungsnahe Presse blies wegen Aussagen, die ich nach meiner Freilassung gemacht hatte, inzwischen zum Generalangriff.

      Bei der Zeitung war es unterdessen zu einem Missklang gekommen. Mehrere mir sehr nahestehende Kollegen aus dem Hirn der Zeitung hatten gekündigt, obwohl ich gesagt hatte: »Mitten im Kampf schmeißt man nicht hin.«

      Ich war erschöpft und bedrückt.

      Von dem Gehetze von einer Einladung zur anderen, die nach meiner Haft aus Europa kamen, drehte sich mir der Kopf.

      Die Strapazen der Haft waren noch nicht überwunden. Die Probleme stapelten sich.

      Ich musste mich ausruhen, mich sammeln, am Strand liegen, Sonne tanken und mit der Lektüre für mein neues Buch beginnen. Möglichst weit entfernt von Telefonklingeln, Krisennachrichten, Drohungen, Ermittlungen, Leibwächtern, Pulverdampfgeruch und Gerüchten in der Zeitung musste ich neue Kräfte sammeln.

      Ich bat die Zeitung und meine Frau um anderthalb Monate Urlaub. Am 7. Juli packte ich Bücher und Sommersachen in zwei Koffer und fuhr allein in Urlaub. Unruhig wie ein aus dem Käfig befreiter Vogel stieg ich ins Flugzeug nach Barcelona.

      3 Flüchtling

      7:30 Uhr morgens.

      Schreie aus den letzten Reihen im Flugzeug:

      Stöhnen, Flehen, kummervolles Gejammer.

      Die traurige Stimme einer wehklagenden Frau.

      Unablässig wiederholt sie dieselben Wörter. Wir verstehen nicht, was sie sagt, doch ihre Empörung ist offensichtlich groß.

      Die Stewardess erklärt den irritierten Reisenden:

      »Ein Flüchtling aus Eritrea, sie wird zum dritten Mal abgeschoben, sie wehrt sich …«

      Um uns zu beruhigen, fügt sie hinzu:

      »Es sind Zivilpolizisten dabei, keine Sorge. Wir sind so was gewohnt.«

      Dennoch sind die Passagiere beunruhigt.

      Die Klage der Frau aus Eritrea wird vor dem Start immer lauter, Passagiere aus den hinteren Reihen ziehen nach vorne um, flüchten vor der Störung.

      Einige setzen Kopfhörer auf, hören Musik oder verlegen sich darauf, nichts zu hören, und schlafen.

      Andere schauen besorgt von weitem zu.

      Niemand aber kommt ihr zu Hilfe, fragt nach ihren Sorgen, sucht nach einer Lösung.

      Schauspiel eines Aufstands, bewacht von zwei Polizisten in Zivil.

      Hinter mir höre ich einen Reisenden sagen: »Gut, dass sie die abschieben.«

      Ich drehe mich zu ihm um.

      Ein Schwarzer.

      Vermutlich also jemand, der vor dieser Frau aus Eritrea einen Platz in Europa ergattern konnte. Panisch darum bemüht, seinen Platz nicht zu verlieren, hat er sein Gewissen eingebüßt.

      Abgebrüht grinst er mich an:

      »Hauptsache, die jagt sich nicht in die Luft …«

      Erst als er meine wütenden Blicke sieht, senkt er die bis zu den Ohren hochgezogenen Mundwinkel.

      Mit dem Flugzeug steigen auch die Schreie auf, fliegen von den hinteren Reihen in Richtung Cockpit.

      Die Frau aus Eritrea schreit, als verbrenne sie bereits in dem Höllenfeuer, in das sie zurückgeschickt wird.

      Ihre glühende Rage raubt den Passagieren das letzte bisschen Ruhe.

      Neugier herrscht auf den luxuriösen Plätzen, Nervosität, Unbehagen, Ärger, Gleichgültigkeit, Angst.

      Aber keine Scham, auch Barmherzigkeit scheint nicht dabei zu sein.

      Bedauern?

      Vielleicht.

      Eine höfliche Durchsage in drei Sprachen, der Aufschrei in einer der Sprachen Eritreas übertönt sie alle.

      Die angenehme Stimme der Stewardess kollidiert mit der Panik in der Stimme der Geflüchteten.

      Das Drama eines Kontinents verwandelt sich in einem Flugzeug in ein symbolisches Schauspiel.

      Die