Gibt es eine gesellschaftlich relevante Zahl an Betroffenen, die ähnliche Ängste durch negative Kindheits- und Jugenderfahrungen entwickelt haben? Und zwar unabhängig davon, ob sie meiner Generation angehören, jünger oder älter sind? Führen die Vernachlässigung von und das Desinteresse am Kindeswohl zwangsläufig zu ähnlichen lebensbehindernden Störungen wie bei mir?
Nach allem, was ich erkannt und gelernt habe, ist meine Antwort ja. Dadurch entstand der Wunsch, anhand meiner Lebensgeschichte, die so vielen gleicht, verständlich zu machen, wie irrationale Ängste in unserer Psyche entstehen können, welche Auswirkungen sie auf das Leben der Betroffenen haben und wie man aus einer Angststörung herauskommen kann.
Vor allem hoffe ich verdeutlichen zu können, dass wir nicht dazu verdammt sind, unser Leben als unveränderbar an- und hinzunehmen.
Vom Wesen der Angst
Kann es so etwas wie ein Leben ohne Angst überhaupt geben? Wenn Sie sich dies beim lesen meines Titels – ICH OHNE ANGST – gefragt haben, dann ist Ihre Skepsis berechtigt. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch nicht so einfach, wie man es vermuten sollte, denn wissenschaftlich gesehen kann man sie klar mit nein beantworten. Subjektiv-emotional gesehen, fühlt sich ein Leben ohne eine Angststörung jedoch so befreiend an, dass ich sagen konnte: Jetzt bin ich ohne Angst! Mit diesem Widerspruch zwischen einem Gefühl, geprägt durch die vielen Erfahrungen meines Lebens und der faktischen, biologischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen des Phänomens Angst, beginne ich mein Buch, um ihnen das Wesen der Angst und ihrer zahlreichen Facetten näher zu bringen.
Zunächst die Biologie. Es gibt den alten Witz: Von den Vorfahren, die beim Anblick eines Säbelzahntigers nicht davongelaufen sind, stammen wir nicht ab. Richtig. Es waren die vorsichtigen, achtsamen Ahnen, die es geschafft haben, sich vor Gefahren in Sicherheit zu bringen, zu überleben und somit ihr Erbgut weitergeben konnten. Dieses Reaktionsvermögen, innerhalb kürzester Zeit eine Bedrohung zu erkennen und sich davor zu schützen, ist tief in unserem Erbgut verankert und wird von den Fachleuten Furcht genannt. Sie ist ein wichtiger Schutzmechanismus, der unserer Spezies über Jahrtausende das Überleben ermöglicht hat.
In unserer Alltagssprache kennen wir den Unterschied zwischen Furcht und Angst nicht, doch es ist mir wichtig, hier diese Unterscheidung zu machen, denn sie half mir, Ordnung in meine diffusen Bedrohungs- und Verunsicherungsgefühle zu bringen. Was ich lernte, war, dass Furcht das konkrete Gefühl vor einer realen Gefahr ist. Angst hingegen besteht aus einem allgemeinen Gefühl der Besorgnis und Bedrohung. In meiner Therapiearbeit, von der ich noch berichten werde, sortierten wir meine Gefühlszustände dann in reale oder irreale Angst, wir hätten auch Furcht oder Angst sagen können. Im Folgenden möchte ich bei dieser Einteilung bleiben, da sie uns vertrauter ist.
Wenn man den Begriff Generalisierte Angststörung genau analysiert, dann erklärt das Wort Angst-Störung schon das Wesentliche. Sie ist eine Störung des Furcht/Angst-Systems; die ursprünglich angelegte Schutzfunktion verwandelt sich in eine Überreaktion, in ein so gut wie generell wirkendes Gefühl von Gefahr. Diese Verwandlung entsteht durch starke, lang andauernde psychische Belastungen in Kindheit und Jugend. Sie ist eine Reaktion auf Stresssituationen, die vom Betroffenen in dieser Zeit nicht gelöst werden konnten. Eine hilfreiche Erkenntnis, denn damit eröffnete sich die Möglichkeit, etwas dagegen tun zu können, denn das, was ich erlernt habe, kann ich umlernen und das, was mich geprägt hat, kann ich abschwächen.
Begeben wir uns auf die Ebene der Soziologie, so wird die Sache komplexer, da sich reale und irreale Ängste häufig in den jeweiligen Gesellschaften vermischen. Eines der wenigen Worte aus dem Deutschen, das es in den englischen Sprachraum geschafft hat, ist: Angst und als „German Angst“ berühmt. Es wurde zu einem der Alleinstellungsmerkmale unseres Landes bzw. der Deutschen. Eine Ursache waren die erlebten Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts. Sie riefen eine allgemeine Besorgnis vor ihrer Wiederholung hervor. Und heute? Wie sieht es aus mit unserer Angst im 21. Jahrhundert? Der Soziologe Heinz Bude schreibt in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“: „Angst kennzeichnet unsere Zeit, sie ist Ausdruck für einen Gesellschaftszustand mit schwankendem Boden. Was bedeutet, dass wir offensichtlich der Meinung sind, altgewohnte Sicherheiten oder Ordnungen in einer globalen Welt, die uns nicht nur unübersichtlicherer und fremder geworden, sondern durch zahlreiche neue Bedrohungen gekennzeichnet ist, verloren zu haben“. Noch komplexer wird das Thema, da z. B. Verschwörungstheorien, Fremdenfeindlichkeit oder die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ dazu führen, dass irrationale Ängste geschürt und politisch instrumentalisiert werden.
Ist Angst also ein deutsches Phänomen oder ein generelles unserer modernen Welt? Als es mir durch meine therapeutische Arbeit gelang, die Angst einmal ohne Angst vor ihr zu betrachten, erkannte ich in zahlreichen Gesprächen mit meiner Therapeutin, dass das Erlebnis Angst zu unserem Leben gehört und gehörte. Es gab sie immer, unabhängig von der Kultur oder der Fortschrittsentwicklung der Menschheit. Es sind lediglich die Angstobjekte, die sich änderten. Waren es früher Blitz, Donner oder Dämonen, welche die Menschen fürchteten, so ist es heute die Angst vor Umweltzerstörung, Terror, Digitalisierung oder Globalisierung.
All dies sind begründete, reale Ängste vor tatsächlich existierenden Gefahren. Es ist also eine Illusion zu meinen, ein Leben ohne Angst leben zu können.
Was jedoch mein eigenes und sicher auch das Leben vieler Menschen so schwer und belastend macht, ist die Fülle individueller Ängste, die mit den oben beschriebenen Szenarien nicht ausreichend erklärt werden. Solche Ängste werden uns nur punktuell bewusst, je nachdem, welche Ereignisse sie auslösen. Es sind die ganz subjektiven, durch unseren Lebensweg geprägten, das Maß der persönlichen Verkraftbarkeit übersteigenden Ängste, die das Thema meiner und der Geschichte vieler Leidensgenossen sind.
Mit dem Überwertigwerden alltäglicher Ängste, die uns im Gegensatz zu den allgemeinen Bedrohungen ständig begleiten, betreten wir das Gebiet der Psychologie. Diese beschäftigt sich sowohl mit den Ängsten, die nichts mit den wirklichen, realen Gefahren zu tun haben und daher eine hermetische, emotional schmerzhafte Weltsicht für die Betroffenen darstellen, als auch mit Entstehung und Verbreitung realer, zur Existenz des Menschen gehörenden Ängsten. Am bekanntesten hierfür ist sicher das Buch „Grundformen der Angst“ des Psychologen und Psychoanalytikers Fritz Riemann, der diese Polarität großartig beschreibt. Auch wenn es schon 1961 auf den Markt kam, hat es kaum an Aktualität verloren. In diesem Buch wird anhand zahlreicher Beispiele dargestellt, dass, wer sich in den Fängen irrrealer frühkindlich gebildeter Ängste befindet, den Weg aus ihnen heraus nicht allein finden kann. Wer seine angstbehaftete Befindlichkeit ändern will, muss in die Lage versetzt werden, sie zu analysieren – sie von außen betrachten zu können. Das braucht Mut und Unterstützung, um die Angst vor der Angst zu durchbrechen, um dann schlussendlich bereit zu sein, sie als Begleiterin, im Positiven wie Negativen, unser aller Leben zu akzeptieren. Dazu abschließend ein Satz von F. Riemann: „wenn wir den Aufforderungscharakter der Angst erkennen, über unsere jeweilige Entwicklungsstufe hinauszuwachsen in eine neue Freiheit, zugleich in eine neue Ordnung und Verantwortung, dann kann sie uns ihren positiven, schöpferischen Aspekt zeigen und zum Anstoß für eine Wandlung werden. “ (Fritz Riemann, Grundformen der Angst, 41. Auflage, Ernst Reinhardt Verlag).
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