Wo Eberhard jetzt wohl ist am ersten Weihnachtstag, frage ich mich bestimmt schon zum hundertsten Male an diesem Tag. Vielleicht bei seinen Eltern? Ob die wohl schon von unserer Trennung wissen? Hat er Appetit, vermisst er mich, hat er Schuldgefühle, wenigstens ein schlechtes Gewissen? Dass er es einfach auch nur als Befreiung erleben könnte und froh ist, ohne mich zu sein – diesen Gedanken blende ich vollständig aus.
„Iss doch was, Britt, mit vollem Magen ist das Leben einfach viel erträglicher!“ Claudette reißt mich mit leeren Worten immer wieder heraus aus meinen Gedanken. Woher hat sie nur diesen schier endlosen Fundus an oberflächlichen Tröstungsformeln? Vermutlich sind es Hilflosigkeit und Überforderung, beantworte ich mir gleich selbst meine Frage. Sie wirkt so künstlich, so verklemmt. Wahrscheinlich jage ich ihr mit all meiner Emotionalität und meinem aus ihrer Sicht bestimmt höchst peinlichen Verhalten eine Heidenangst ein. Und als würde sie mich steuern, greife ich mechanisch nach dem Besteck und esse etwas, das nach Pappe, Mehl und Fäulnis schmeckt. Ich esse, stehe auf, rede, lege mich ins Bett, weine, schlafe.
Am zweiten Feiertag kehre ich endlich in mein einstiges Zuhause zurück, werde von den beiden Hunden schon sehnsüchtig erwartet und stürmisch begrüßt. Eberhard und ich begegnen uns jedoch nicht, er ist bereits fort, wohin auch immer. Einen Tag vor Silvester verlässt er dann das Haus, um sich zu seinen Freunden aufzumachen, Silvester zu feiern, auf die neue Freiheit anzustoßen. Ich bleibe erneut allein und verlassen zurück.
Der Fernseher läuft, irgendein Film. Ich schaue nicht hin, mag nichts essen, nichts trinken. Erinnerungen an frühere Silvesterfeiern aus längst vergangenen Jahren erzeugen Bilder in meinem Kopf. Silvester mit Eberhard: Entweder waren wir allein oder mit Freunden, im Urlaub oder zu Hause. Reminiszensen werden wach, Erinnerungen an unser großes Glück, an die Küsse, das Lachen und die liebevollen Umarmungen zum neuen Jahr.
An den letzten zurückliegenden Silvesterabenden hatte ich mir jedes Mal wieder vorgenommen, im neuen Jahr beruflich kürzer zu treten. Gerade in den vergangenen zwei Jahren war die Belastung doch sehr stark geworden. Viel zu viel, wie mir bald schmerzlich klar werden sollte. Rückblickend habe ich mein Engagement, meinen ganzen Arbeitseinsatz immer höher und höher geschraubt – und muss jetzt für den Erfolg einen umso größeren Preis zahlen.
Aber jetzt will ich nur schlafen, nichts als schlafen. Nicht mehr planen, nicht organisieren und vor allen Dingen: kein mich kümmern mehr! Schlafen, mich zudecken – und wenn ich viel Glück habe, auch nicht mehr aufwachen. Totstellreflex nennt man das wohl …
Kurz vor Mitternacht wird es draußen lauter. Ich liege im Bett, höre die ersten
Silvesterraketen zischen und pfeifen, bemerke, wie Lady und Ovambo unruhig werden. Irgendein Urinstinkt lässt sie jedes Mal an Silvester vor Angst zittern und völlig irrational reagieren. Und genauso wie ich sind sie gerade mit keinem Wort der Welt zu trösten. Da müssen wir alle drei nun irgendwie durch. Lady springt schutzsuchend auf mein Bett, Ovambo hat sich darunter verkrochen. Irgendwann fehlt mir die Energie, sie zu trösten.
Auf den Straßen explodiert Feuerwerk, fröhliches Zuprosten, Glückwünsche, Happy New Year. Das neue Jahr hat soeben begonnen. Kann ja nur besser werden, rede ich mir immer und immer wieder ein. Das Schlimmste habe ich bestimmt schon geschafft. Ich wünsche es mir so sehr und ein jeder versichert es mir auch: Im neuen Jahr wird alles besser!
Wie sehr sollte ich mich in diesem Punkt doch irren!
3 Auszug
Der nächste schmerzvolle Abschied naht. Während ich zwischen Weihnachten und Silvester und an den ersten Tagen des neuen Jahres mit allen Maklern, die ich trotz der Feiertage erreichen konnte, telefoniert habe und mir jede nur irgendwie brauchbar erscheinende Wohnung im Internet herausgesucht hatte, wird mir eines schnell klar: Beide Hunde werde ich auf keinen Fall mit in mein neues Leben nehmen können. Wird bei einem kleinen Hund hin und wieder noch eine Ausnahme vom kategorischen Nein zur Hundehaltung gemacht, werde ich jedoch ganz sicher mit einer so wilden Maus wie meiner Lady keinen einzigen Vermieter davon überzeugen können, ruhige und unauffällige Mieter zu werden.
Katja, meine Hundefriseurin und zugleich eine liebe Freundin, hatte während der vergangenen Wochen kurz hintereinander gleich zwei ihrer drei Hunde beerdigen müssen. Und als ich sie anrief, um ihr von meiner Trennung zu erzählen, erfahre ich im Verlauf des Gesprächs, dass sie sich ganz schnell wieder einen Hund wünscht. „Du glaubst gar nicht, Britt, wie leer das Haus nun ist. Ich kann und kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass die beiden nicht mehr da sind.“ Und ob ich mir das vorstellen kann! Katjas neues Jahr hatte also ebenfalls sehr traurig begonnen und spontan macht sie mir den Vorschlag, sich um Lady zu kümmern – nicht ohne zuvor sehr viele und sehr unschöne Worte über Eberhard und sein Verhalten losgeworden zu sein. „Bring sie her, Britt, wenn du willst gleich heute Nachmittag noch. Dann werden wir sehen, wie sie hier klarkommt. Aber eins musst du wissen: Das hier bei mir ist keine
Hundepension! Wenn sie kommt und hierher passt, dann bleibt sie auch für immer.“ Katja ist sehr direkt und stets eine Freundin klarer und ehrlicher Worte, eine Eigenschaft, die wir beide eigentlich teilen, aber eine, die ich gerade heute so gar nicht gebrauchen kann.
Das ist nun also unsere Chance, Ladys Chance, auf ein gutes Weiterleben auch ohne mich. Noch am gleichen Tag fahre ich nachmittags zu Katja. Mir fällt diese Fahrt unglaublich schwer und ich muss fast unentwegt weinen. Aber ich muss diese Entscheidung treffen und mich von Lady trennen, ob ich will oder nicht. Und in mir stirbt schon wieder etwas.
Vier Jahre war Lady bei uns, eine Straßenhündin aus Ungarn. In der Tiernothilfe hatte sie auf ein neues Zuhause gewartet und es bei uns gefunden. Sie ist ein wirklich anstrengender Hund: eigensinnig, rebellisch, aber mit einem umwerfenden Charme ausgestattet, ein wunderschönes Tier, das ich sehr schnell sehr lieb gewonnen hatte. Bestimmt aber ist sie kein Hund für ein Leben in einer Wohnung, sondern eine Wilde.
Fortan also, falls sie sich einlebt, wird sie auf Katjas Bauernhof zusammen mit anderen Tieren viel Freiheit und Natur genießen können, versuche ich mich selbst ein wenig zu trösten.
Katja drängt auf einen schnellen Abschied an diesem Nachmittag, so wie sie es auch angekündigt hatte. Ich bin ihr dankbar und weiß, dass es Lady gut bei ihr haben wird. Trotzdem tut der Abschied gewaltig weh. Ihr trauriger, fassungsloser Blick, als ich mich über sie beuge, leise in ihr Fell weine und schließlich ohne sie das Haus verlasse, verfolgt mich.
Das Gefühl, versagt zu haben, und ein leises schlechtes Gewissen werden mich fortan begleiten, wann immer ich an Lady zurückdenken werde. Verlassen, Versagen, Verlieren – diese Trias zieht sich nun schon so lange wie ein roter Faden durch mein
Leben. Offensichtlich sind die drei großen ‚V‘ meine grundlegenden unbewältigten Lebensthemen.
***
„Wo ist denn Lady?“, begrüßt mich Eberhard abends mürrisch, als ich allein mit Ovambo von einem Spaziergang zurückkomme.
„Weg!“
„Was heißt das, weg? Wo ist sie?“
„Sie ist da, wo sie es von nun an besser haben wird.“
„Das kann jetzt aber nicht dein Ernst sein! Du kannst doch nicht einfach meinen Hund weggeben!“
„Siehst du doch, dass ich das kann. Oder hast du etwa vor, dich in deinem neuen
Freiheitsleben um sie zu kümmern und für sie zu sorgen?“ Mich packt die kalte Wut über so viel Ignoranz.
„Das kann ich doch gar nicht“, kommt seine pikierte Antwort zurück. Klar, mitten in der Midlifecrisis und in seinem künftigen neuen Leben stört natürlich die Verantwortung für einen Hund, genauso wie für eine erkrankte Ehefrau oder auch für die Kinder aus früheren Beziehungen. Und so verlässt er auch dieses – unser – Leben mit einem radikalen Schnitt. Offenbar kann er gar nicht anders. Es ist eben sein Muster, Frauen zu verlassen, immer wieder.
Aber ich habe keine Kraft mehr für Kämpfe und Diskussionen und entgegne im
Weggehen