Sir Wesley Kent an ihrer anderen Seite war ebenfalls ein angenehmer Nachbar. Er hatte reizende Bemerkungen über ihre Bücher gemacht, und das mit so viel Takt, dass sie darüber nicht in Verlegenheit geriet, wie das so viele Menschen ohne weiteres fertigbrachten. Er hatte den einen oder anderen Grund genannt, warum er das eine oder andere ihrer Bücher besonders gut fand, und es waren gute Gründe gewesen, und deshalb hatte er Mrs Oliver sehr gefallen. Lob von Männern, dachte Mrs Oliver bei sich, kann man immer annehmen. Frauen waren überschwänglich. Was manche Frauen ihr so schrieben! Also wirklich! Natürlich nicht immer nur Frauen. Manchmal auch gefühlvolle junge Männer aus fremden Ländern. Erst letzte Woche hatte sie einen Verehrerbrief erhalten, der so begann: »Ich habe Ihr neuestes Buch gelesen und fühle, was für eine edle Frau Sie sind.« Nach der Lektüre von The Second Goldfish war der junge Mann in eine richtige literarische Ekstase geraten, was Mrs Oliver höchst unpassend fand. Zwar war sie nicht übermäßig bescheiden und fand ihre Kriminalromane gut, manche schlechter, manche besser. Aber ihrer Meinung nach gab es keinen Grund, dass jemand aus ihren Büchern herauslesen konnte, sie sei eine edle Frau. Sie war einfach eine glückliche Frau, weil sie schreiben konnte, was ein Haufen Leute lesen wollte.
Alles in allem war sie bei dieser Heimsuchung eigentlich recht gut weggekommen. Es hatte ihr gefallen, sie hatte sich mit ein paar netten Leuten unterhalten. Bald würde man aufstehen, und die Gäste würden in die Richtung strömen, wo es Kaffee gab und man seinen Partner wechseln und mit andern Leuten schwatzen konnte. Das war der gefährliche Punkt, wie Mrs Oliver recht gut wusste. Es war der Augenblick, wo andere Frauen auftauchen und sie überfallen konnten. Überfallen mit widerlichen Lobhudeleien, bei denen sie sich immer beklagenswert unfähig fühlte, die richtige Antwort zu geben, weil es im Grund keine richtige Antwort gab. Es war ungefähr so wie in einem Sprachführer.
Frage: »Ich muss Ihnen einfach sagen, wie gern ich Ihre Bücher lese und wie wunderbar ich sie finde.«
Antwort des nervösen Autors: »Nein, das ist reizend! Wie mich das freut!«
»Wissen Sie, schon seit Monaten lauere ich darauf, Sie kennenzulernen. Es ist einfach wundervoll.«
»Ach, das ist aber reizend von Ihnen. Wirklich reizend.«
Und so weiter. Keiner schien in der Lage zu sein, das Thema zu wechseln. Es musste sich alles um die eigenen Bücher drehen oder um die der anderen, sofern man sie gelesen hatte. Man zappelte im Netz der Literatur. Manche Leute konnten sich wehren, aber Mrs Oliver war sich bitter bewusst, dass sie nicht die Fähigkeit dazu besaß. Eine Freundin aus dem Ausland hatte ihr einmal eine Art Vorlesung darüber gehalten.
»Ich habe dir zugehört«, hatte Albertina mit ihrer bezaubernden, leisen, fremdländisch klingenden Stimme gesagt, »was du dem jungen Mann von der Zeitung geantwortet hast, der dich interviewt hat. Du hast keinen Stolz! Nein, du bist nicht stolz auf deine Arbeit! Du müsstest sagen: ›Jawohl, ich schreibe gut. Ich schreibe besser als irgendwer anders, der Kriminalromane schreibt.‹«
»Aber das tue ich nicht«, hatte Mrs Oliver erwidert. »Ich bin nicht schlecht, aber …«
»Ach, sag doch nicht: ›Das tue ich nicht.‹ Du musst es behaupten! Sogar wenn du es selbst nicht glaubst, musst du es sagen.«
»Ich wünschte, Albertina«, hatte Mrs Oliver gemeint, »dass du mit den Journalisten reden könntest. Du bist so geschickt. Könntest du nicht so tun, als seist du ich? Ich verstecke mich hinter der Tür und höre zu.«
»Ja, vermutlich ginge das. Sicher wäre es sehr komisch. Aber man würde es doch merken. Man kennt dein Gesicht. Du musst nur einfach sagen: ›Ja, ja, ich weiß, dass ich besser bin als die anderen.‹ Du musst es jedem erzählen. Alle sollen es wissen. Und darüber berichten. Ach, es ist schrecklich, dich dasitzen zu sehen, als wolltest du dich auch noch entschuldigen für das, was du sagst. Das ist doch wirklich nicht notwendig.«
Es war beinahe so gewesen, erinnerte sich Mrs Oliver, als sei sie eine junge Schauspielerin, die versuchte, eine Rolle zu lernen, und der Regisseur hatte festgestellt, dass sie hoffnungslos unbegabt war.
Nun, hier hatte es bis jetzt jedenfalls kaum Schwierigkeiten gegeben. Zwar würden ein paar Damen auf sie warten, wenn man aufstand. Sie konnte schon eine oder zwei darauf lauern sehen. Aber das war nicht schlimm. Sie würde lächeln und nett sein und sagen: »Wie reizend von Ihnen. Ich freue mich schrecklich. Ich bin so glücklich, Leute kennenzulernen, die meine Bücher mögen.« Den ganzen alten Quatsch. Als steckte man die Hand in eine Schachtel und holte einen Haufen nützlicher Worte heraus, die schon aneinandergereiht waren wie die Perlen einer Halskette. Und dann würde sie bald verschwinden können.
Ihr Blick wanderte über den Tisch in der Hoffnung, dass sie doch noch Freunde entdeckte, nicht nur Bewunderer. Ja, da hinten saß Maurine Grant, sie war eine reizende Person. Dann kam der ersehnte Augenblick, die Schriftstellerinnen und ihre Tischherren erhoben sich. Alles strömte auf die Sessel, Kaffeetische, Sofas und vertraulichen Nischen zu. Der Augenblick der Gefahr, wie Mrs Oliver dachte, obwohl sie meistens nur auf Cocktailpartys ging; selten zu einem literarischen Essen. Jetzt drohte jeden Moment Gefahr in Gestalt von jemandem, an den man sich nicht mehr erinnerte, der sich selbst aber noch sehr gut an einen erinnerte, oder von jemandem, mit dem man keinesfalls sprechen wollte, dem man aber nicht ausweichen konnte. In diesem Fall war es das erste Dilemma, das auf sie zukam; eine große Frau, gut proportioniert, mit weißen Pferdezähnen, auf Französisch hätte man sie als femme formidable bezeichnet. Außerdem wirkte sie sehr herrisch. Offensichtlich kannte sie Mrs Oliver entweder schon oder beabsichtigte, sofort ihre Bekanntschaft zu machen. Letzteres geschah.
»Ach, Mrs Oliver!«, rief sie mit schriller Stimme. »Was für eine Freude, Sie hier zu treffen! Ich habe es mir schon so lange gewünscht. Ich bete Ihre Bücher einfach an. Mein Sohn auch. Und mein Mann hat immer darauf bestanden, dass wir nie ohne ein paar davon verreisten. Aber kommen Sie, setzen wir uns. Es gibt so vieles, das ich Sie fragen muss!«
Na ja, dachte Mrs Oliver, nicht gerade mein Lieblingstyp. Aber sie ist so gut wie jede andere.
Sie ließ sich in einer Weise, die einem Polizeibeamten angestanden hätte, zu einem kleinen Ecksofa führen, und ihre neue Freundin nahm Kaffee und reichte ihr auch welchen. »So. Da wären wir! Sie werden meinen Namen nicht kennen. Ich bin Mrs Burton-Cox.«
»Aber ja«, sagte Mrs Oliver verlegen wie immer in solchen Situationen. Mrs Burton-Cox? Schrieb sie auch Bücher? Nein, sie konnte sich wirklich in nichts an sie erinnern. Aber den Namen hatte sie schon einmal gehört. Eine ganz schwache Erinnerung kehrte zurück. Schrieb sie nicht politische Bücher oder so was? Jedenfalls keine Romane, Komödien oder Kriminalgeschichten. Vielleicht eine Intellektuelle mit politischen Ambitionen? Das dürfte nicht schwierig sein, dachte Mrs Oliver erleichtert. Ich lasse sie einfach reden und sage von Zeit zu Zeit nur: »Wie interessant!«
»Sie werden erstaunt sein über das, was ich Ihnen erzählen möchte«, erklärte Mrs Burton-Cox. »Aber aus Ihren Büchern weiß ich, wie mitfühlend Sie sind, wie viel Sie von der menschlichen Natur verstehen. Und ich habe das Gefühl, dass, wenn mir jemand eine Frage beantworten kann, Sie diejenige sind.«
»Ich glaube wirklich nicht …«, stotterte Mrs Oliver und suchte nach geeigneten Worten, um auszudrücken, dass sie absolut nicht sicher war, ob sie zu dem von ihr verlangten geistigen Höhenflug imstande war.
Mrs Burton-Cox tippte ein Stückchen Zucker in ihren Kaffee und zermalmte es wie ein Raubtier, das einen Knochen frisst. Vielleicht hat sie auch Elfenbeinzähne, überlegte Mrs Oliver flüchtig. Elfenbein? Hunde hatten Zähne aus Elfenbein und Walrosse und Elefanten auch, natürlich. Riesengroße Stoßzähne aus Elfenbein.
»Also«, sagte Mrs Burton-Cox da, »das Erste, was ich Sie fragen muss – obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass es stimmt … Sie haben eine Patentochter, nicht wahr? Celia Ravenscroft!«
»Oh«, sagte Mrs Oliver, angenehm überrascht. Sie hatte das Gefühl, dass sie einem Gespräch über ein Patenkind gewachsen sein würde. Sie hatte viele Patenkinder. Es hatte Zeiten gegeben, wo sie sich eingestehen musste, dass sie sich nicht mehr an alle erinnerte. Je älter