Die Arbeit entsprach nicht unbedingt dem, was Martin mit seiner Versetzung in die Leibstandarte erwartet hatte. Die Hoffnung, in einer Eliteeinheit dienen zu dürfen, zerschlug sich unter diesen Umständen schnell. Sein Tagesablauf entsprach mehr dem eines routinierten Verwaltungsbeamten als dem eines SS- Mannes, dem es nach Heldentaten dürstete. Jeden Morgen brachten Adjutanten, Meldegänger und Sachbearbeiter unzählige schriftliche Vorgänge in die Poststelle. Dabei handelte es sich oft um Personalakten, Befehle, den Schriftverkehr zwischen einzelnen Dienststelle und Dienstanweisungen. Täglich wurde eine Vielzahl von Anordnungen herausgegeben, die abschließend bearbeitet und dann erneut weitergeleitet wurden. Das Volumen der Bürokratie wuchs beständig an und mit ihr der Aufwand an Personal, das versuchte ihrer Herr zu werden. Heinrich Göring stellte sich als ein ausgezeichneter Organisator heraus, dem die tägliche Flut von Akten und Dokumenten nicht das geringste auszumachen schien. Mit stoischer Gelassenheit sortierte er die hereinkommenden Unterlagen, registrierte sie, versah jedes einzelne der Dokumente mit einer Eingangsnummer und sorgte dann für ihre korrekte Weiterleitung.
Martin stellte nach ein paar Tagen fest, dass dieser Dienstposten in der Poststelle auch etwas Gutes hatte. Zum einen ließ man ihn und Göring meist in Ruhe. Niemand wollte dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sich die Zustellung von wichtigen Papieren verzögerte nur, weil man Martin und Göring von ihrer Arbeit abgehalten hatte. Ein weiterer Vorteil war, der ungehinderte Zugang zu Informationen aller Art. Über den Schreibtisch von Martin gingen unter anderem die schriftlichen Laufbahnbeurteilungen von SS-Angehörigen, Berichte aus den Konzentrationslagern sowie tägliche Lageberichte aus den unterstellten Bereichen der SS. Sehr schnell erkannte er die hohe Brisanz einiger dieser Papiere und schon bald verfügte er über ein fundiertes Hintergrundwissen. Sein direkter Vorgesetzter war ein ehemaliger Buchhalter, der den Dienstgrad eines Hautscharführers innehatte. Der Mann war ganz in Ordnung und ließ Martin die Poststelle weitestgehend nach eigenem Gutdünken führen. Nach einigen Wochen der intensiven Einarbeitung hatte Martin die Sache im Griff. Er und Göring kamen gut miteinander aus, nur die zwischenzeitliche Sauferei des Mannes störte ihn, aber so lange die Arbeit nicht darunter litt, deckte Martin die gelegentlichen Eskapaden seines Mitarbeiters. Bei den Offizieren im Stab der Leibstandarte genoss Martin schon bald den Ruf eines zuverlässigen Unterführers.
Seine Vorgesetzten wussten, dass über den Tisch der Poststelle so ziemlich jedes Stück Papier ging, dass von Bedeutung war. Manchmal versuchten Vorgesetzte über Martin herauszufinden, was deren Vorgesetzte über sie zu Papier brachten. Die meisten Offiziere achteten penibel darauf bei Himmler nicht unangenehm aufzufallen. Viele von ihnen nutzten dabei jede Möglichkeit, ihre Karriere auch auf dem Rücken ihrer Kameraden voranzutreiben. Martin erkannte schnell, dass er als „Herrscher der Poststelle“ über eine gewissen Machtposition verfügte, und so begann er schon bald sich die wichtigsten Informationen einzuprägen. Irgendwann waren ihm die Stärken und vor allem die Schwächen seiner Vorgesetzten geläufig. Viele dieser Männer hielten es mit der ehelichen Treue nicht so genau, soffen oder hatten Spielschulden. Aus den Personalunterlagen eines jeden dieser Männer kannte Martin nach und nach zahlreiche Details, die ihm deutlich machten, dass bei der Leibstandarte auch nur mit Wasser gekocht wurde.
An einem der nächsten Tage war Martin mal wieder allein in seinen Arbeitsräumen. Sein Untergebener lag nach einer durchzechten Nacht noch in sauer und würde erst gegen Mittag im Büro erscheinen. Wie immer nach solchen feuchtfröhlichen Nächten, würde Göring sich am Nachmittag hinter einem Berg von Akten verstecken und seinen Kater auskurieren. Martin genoss die Ruhe, die ihm so den ganzen Vormittag erhalten bleiben dürfte. Auf dem Hof vor einem seiner Fenster übte eine Gruppe von SS-Männern den Parademarsch. Er lächelte still in sich hinein, als er die Männer dort unten auf dem Appellplatz beobachtete. Vor ein paar Wochen noch hätte er gern dazugehört. Heute war er froh, die Arbeit in der Poststelle erhalten zu haben. Er schloss das Fenster und wandte sich wieder dem Stapel der neuen Posteingänge zu. Das allermeiste war der übliche Routinekram und Martin überflog lediglich die Überschriften. Doch eine rote Aktenmappe weckte sein Interesse. Diese Art von Unterlagen waren ihm bisher noch nicht oft auf den Tisch gekommen. Auf der Vorderseite des dicken Umschlags aus rotem Leinen war in goldener Farbe der Reichsadler eingeprägt. Die Mappe war hochwertiger verarbeitet und schien für ganz besondere Dokumente gemacht worden zu sein.
Zunächst glaubte Martin, es handelte sich dabei um Beförderungsurkunden oder Belobigungen, aber dann würde die Akte nicht aus dem Büro des Leiters des SD`s (Sicherheitsdienst der SS) Reinhard Heydrich kommen, sondern wie üblich aus dem Personalamt. Martin strich mit der Hand über den feinen Leinenstoff. Das Siegel, das den Inhalt der Akte vor neugierigen Blicken schützen sollte, war schlampig verklebt worden, so dass man sie ohne weiteres öffnen konnte. Martin sah sich um. Er überprüfte, ob sich jemand auf dem Gang vor dem Büro herumtrieb. Als er niemanden ausmachen konnte, ging er zurück zum Schreibtisch und öffnete die Akte.
Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS
SD Hauptamt – Amt II Abt. II / 212
Obersturmbannführer Kubbek
Wilhelmstraße 102
Berlin
An den
Reichsarzt SS und der Polizei
Dr. Ernst-Richard Grauwitzer
GEHEIME REICHSSACHE
Lieber Parteigenosse Grauwitzer,
Ich sende ihnen heute die gewünschten Informationen bezüglich der geplanten Transporte im Rahmen der „Aktion T4“. Die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft (GeKraT), hier vertreten durch ihren eingesetzten Geschäftsführer Herrn Hermann Schwennte, eingetragen im allgemeinen Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg, wird den planmäßigen Transport der dafür vorgesehenen Patienten in die Zwischenanstalten und dann weiter in die vorgesehenen Endanstalten durchführen. Außerdem wird die Firma den anschließenden erforderlichen Schriftwechsel mit den jeweiligen Angehörigen der Patienten und den beteiligten Anstalten erledigen. Die standesamtlich beurkundeten Totenscheine werden ebenfalls durch die GeKrat veranlasst.
Sie werden, wie im Vorfelde bereits besprochen, keinerlei Hinweise auf die tatsächlichen Todesursachen aufweisen. Es ist auch weiterhin unbedingt darauf zu achten, dass die reibungslose und erfolgreiche Durchführung der „Aktion T4“ sichergestellt wird. Die Kanzlei des Führers ist über den Sachverhalt umfänglich informiert und billigt ihn.
Mit kameradschaftlichen Grüßen
Heil Hitler
Kubbek, Obersturmbannführer
Martin starrte auf das Schreiben in seiner Hand. Er las es nochmals und dann nochmal, aber sein Verstand weigerte sich das soeben Gelesene zu begreifen. Worum zum Teufel ging es hier? Was war die „Aktion T4“ und welche Patienten waren hier gemeint? In diesem Moment ging die Tür auf und Göring betrat den Raum. „Kannst Du nicht anklopfen!“, ranzte Martin den halbwegs ausgenüchterten Rottenführer an und schob unauffällig einen Stoß Papiere über die geöffnete Akte. Göring blickte ihn mit roten verquollenen