Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass Missi die dreiste Nachricht der sogenannten Elster gehörig wurmte. Missi untersuchte den Brief sehr gründlich. Sie prüfte, ob Fingerabdrücke darauf zu finden waren. Oder Schnabelspuren. Immerhin ging es ja um eine Elster, also einen Rabenvogel. Es stellte sich heraus, dass der Brief auf ganz herkömmlichem Papier geschrieben wurde. Weitere Spuren ließen sich allerdings nicht finden. Gleichzeitig untersuchte Missi das Labor, aus dem der Knochen entwendet wurde. Aber auch hier war nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Scheinbar hatte diese Elster alles getan, um ihre Spuren zu verwischen. Missi kam und kam mit ihren Ermittlungen einfach nicht vom Fleck. Ja, sie konnte nicht einmal herausfinden, wie die Elster den Knochen im Fallrohr direkt über Missis Zimmerfenster platziert hatte. Es war zum Mäusemelken, wie man so schön sagte. Und Missi musste sich zähneknirschend eingestehen, dass es tatsächlich war, wie es in dem Brief hieß. Sie kam dieser verflixten Elster nicht auf die Schliche. Vorerst jedenfalls. Das hieß aber nicht, dass Missi nichts zu tun hatte. Immerhin gab es eine Menge anderer Fälle zu lösen. Zum Beispiel den folgenden.
Es geschah an einem dieser Tage, an denen alles, aber auch wirklich alles schiefging. Zuerst hatte Missi das Matheheft auf ihrem Schreibtisch vergessen. Dummerweise standen die Hausaufgaben darin. Dafür hatte sie sich natürlich einen Rüffel eingefangen. Als Nächstes brauchte sie ein ganz bestimmtes Buch aus der Bibliothek. Das war aber schon eine ganze Weile verliehen. Frau Soundso hatte Missi sogar mitgeteilt, dass die Ausleihe noch verlängert wurde. Und als ob das nicht schon gereicht hätte, hatte sich Missi in der großen Pause auch noch ihren Milchshake über den Pullover geschüttet. Man kann sich also vorstellen, dass sie nicht in der allerbesten Stimmung war, als sie nach dem Unterricht zum Fahrradständer ging, um Ferkel I abzuholen. Ferkel war ihr rosafarbener Roller. Später wollte Missi mal einen Motorroller haben. Den würde sie dann Ferkel II nennen.
Aber bis dahin würde es wohl noch ein Weilchen dauern. Und Missi war mit Ferkel I auch ausgesprochen zufrieden. Nur war Ferkel I – irgendwie … weg!
Missi blickte sich verdutzt um. Sollte etwa jemand …? Nein, hier klaute doch keiner einen Roller. Nicht an ihrer Schule, verflixt. Doch es konnte keinen Zweifel mehr geben. Irgendjemand hatte Ferkel I geklaut. Fragte sich nur, wer? Missi blickte sich fieberhaft um. Womöglich waren Nil und Ganges auch gerade auf dem Heimweg. Dann konnten sie ihrer Mutter ausrichten, dass Missi erst später zum Essen kommen würde. Womöglich sogar viel später. Denn Mittag hin oder her, Missi wollte auf keinen Fall nach Hause gehen und erst nach dem Essen zurückkommen. Sie wollte augenblicklich mit der Suche nach ihrem Roller beginnen. Und weil Nil und Ganges nirgends zu entdecken waren, rief Missi ihre Mutter an und erklärte die Sache.
»So eine Sauerei«, schimpfte Frau Moppel.
»Ferkelei«, verbesserte Missi.
»Ja stimmt«, sagte ihre Mutter und fragte dann: »Soll ich dich abholen? Oder sind die Jungs noch da? Brauchst du Hilfe?« Doch dann fiel ihr ein, mit wem sie da telefonierte, und sie entschied: »DU schaffst das schon.«
»Eben«, sagte Missi, legte auf und begann mit ihren Ermittlungen.
Zunächst einmal fiel ihr auf, dass auch das Zahlenschloss verschwunden war. Damit hatte sie den Roller nämlich am Fahrradständer festgemacht. Das war ein wichtiger Hinweis. Denn ein geübter Dieb hätte sicher einen Bolzenschneider benutzt, um das Schloss aufzuschneiden. Die Reste hätte er dann einfach liegen lassen.
Missi war ein bisschen früher draußen auf dem Pausenhof gewesen als die übrigen Schüler. Die kamen nämlich erst jetzt in Grüppchen oder allein, mal munter plaudernd, mal ziemlich erledigt, aus der Schule. Jeder schnappte sich sein Gefährt. Und auf diese Weise leerte sich nach und nach der Fahrradständer. Das wiederum zeigte Missi zweierlei. Erstens war Ferkel I offenbar der einzige Roller, der geklaut wurde. Alle anderen fanden ihre Räder oder Roller nämlich problemlos. Und zweitens musste Missi sich eingestehen, dass man sich schlicht und ergreifend manchmal nicht auf sein Gedächtnis verlassen konnte. Denn als plötzlich so viele Räder und Roller fehlten, sah Missi ganze drei Reihen weiter ein rosafarbenes Leuchten. Missi lief hin, und dort stand, als wäre nichts geschehen, Ferkel I.
»Hey, Ferkel, hier steckst du also!«, rief Missi erleichtert. Sie stellte die Zahlenkombination ein, um das Schloss zu öffnen. Dann klopfte sie noch zweimal auf den Sattel, weil sie so froh war, Ferkel I wiederzuhaben. Anschließend zog sie den Roller aus dem Fahrradständer. Doch als sie sich daraufstellen wollte, stimmte etwas nicht. Missi konnte sich zwar mit einem Fuß auf das Trittbett stellen. Und sie konnte auch mit beiden Händen den Lenker umfassen. Nur konnte sie dann nicht mehr mit dem anderen Fuß Schwung holen, weil sie viel zu sehr in die Hocke gehen musste und die Füße schon über den Boden schleiften. Verwirrt wechselte Missi die Stellung der Füße und versuchte es andersherum. Das half auch nicht.
Hatte etwa jemand am Lenker herumgebastelt? Vielleicht hatte einer der Jungs ihn niedriger eingestellt. Und jetzt hockte er hinter einer Mauerecke, um sich über Missi zu amüsieren. Missi wartete schon darauf, dass die Klassenrüpel Rob, Nob und Hub lachend aus ihrem Versteck kämen. Aber da lachte niemand, und überhaupt schien Missi inzwischen ganz allein auf dem Schulhof zu sein. Abgesehen von Ferkel I natürlich. Grübelnd betrachtete sie ihren Roller noch einmal eingehend. Heute Morgen hatte sie ganz und gar einwandfrei auf Ferkel I gepasst. Aber jetzt war er schlichtweg zu klein. Zögerlich blickte Missi an sich hinab. Sie konnte doch nicht an einem Schultag so viel gewachsen sein. Nein, nein, mit ihr war alles in Ordnung. Sonst hätten ihre Sachen ja auch nicht mehr gepasst. Katzenkinder wuchsen zwar einigermaßen fix. Aber sooo schnell nun auch wieder nicht.
Dann gab es nur eine Möglichkeit. Auch wenn sie noch so unwahrscheinlich klang. Trotzdem konnte es nur so sein. Missi erinnerte sich an das, was Sherlock Holmes stets sagte. Nämlich: »Wenn man alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, ist das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, die Lösung!«
Und das konnte wiederum nur eines bedeuten, beschloss Missi und sagte: »Ferkel, du bist geschrumpft.«
Dieses Rätsel war geklärt. Unglücklicherweise ergab sich daraus sofort das nächste Rätsel. Und das hatte es in sich. Denn wie, bitte schön, konnte ein Tretroller schrumpfen? Immerhin war er ja kein Pullover, den man nur mal versehentlich in den falschen Wäschekorb steckte. Nämlich in den für die Kochwäsche. Wenn dieser Pullover dann aus der Waschmaschine kam, konnte man ihn mit etwas Pech seinem Lieblingsplüschtier anziehen, weil er so klein geworden war. Aber derlei Dinge funktionieren eben nicht mit einem Tretroller. Nein, nein, schrumpfen lassen konnte man so einen Roller nicht, entschied Missi.
»Aber verwechseln kann man ihn!«, rief sie, als wäre ihr nicht nur ein Licht, sondern gleich ein ganzer Kronleuchter aufgegangen.
Noch einmal untersuchte Missi das vermeintliche Ferkel I. Der Roller war ebenfalls rosafarben, hatte diese dicken weißen Räder und so weiter. Offenbar handelte es sich tatsächlich um das gleiche Modell. Nur war dieser Roller hier eben nicht