Die objektive Realität hat auch wenig Chancen, wenn du seelisch nicht gut drauf bist und halb depressiv herumhängst. Je weiter unten du seelisch bist, desto mehr bist du bereits bei alltäglichen Anforderungen überlastet und desto stärker macht dir dein Algorithmus Angst: Er übertreibt bedrohliche Aspekte der objektiven Realität und zeigt dir überall Risiken und Gefahren: Alle sind gegen dich und die Welt ist böse.
Dann lieber verliebt: Auf Wolke sieben mit einem überhohen seelischen Pegel lässt dich die gleiche Realität federleicht schweben: Die Welt ist zum Umarmen schön, die Farben schillernd und die Zukunft rosarot. In deiner Euphorie traust du dir so ziemlich alles zu.
Aber da ist ja noch die Erfahrung. Zum Glück, so meinst du nun sicher, kannst du dich wenigstens auf dein Gedächtnis verlassen! – Aber denkste: Glaubst du wirklich, was du schon mal erlebt und in deinem Gedächtnis abgelegt hast, könntest du immer wieder im Original abrufen? Ohne dass vom Algorithmus daran herummanipuliert wird? Leider nicht. Bereits beim Abspeichern wird massiv gefiltert: Nur was deinem Algorithmus wirklich wichtig erscheint, wird ins Archiv verfrachtet. Etwas Beiläufiges ist es nicht wert, abgespeichert zu werden, umso mehr aber Vorgänge, die dich persönlich oder unmittelbar stark betreffen. Diese Highlights gelangen besonders nachhaltig in dein Archiv. Ein heftiges Schockerlebnis wiederum setzt dich unter so starken Stress, dass davon nur die gröbsten Basics eingelagert werden. – Dann kannst du dich einfach nicht an Einzelheiten erinnern.
Deine Erfahrungen sind in deine neuronalen Netze eingebettet – gut untergebracht sind sie da nicht. Nur selten oder gar nicht aufgerufen, gehen vor allem die Details mit der Zeit verloren. Permanente Speicherung kostet zu viel Energie und es ist nicht effizient, unwichtige Daten zu erhalten, eine grobe Übersicht über Vergangenes muss genügen. Es sind sowieso immer nur Bruchstücke deiner realen Erfahrungen im Speicher, die bei jedem Abruf wieder irgendwie zu einer dir selbst plausibel erscheinenden Szenerie rekonstruiert werden müssen.
Diese Rekonstruktion ist aber vielen Einflüssen ausgesetzt: Bereits, wenn du ein wenig down bist, erscheint dir deine Erinnerung grau in grau eingefärbt, im halb depressiven seelischen Zustand wird dir eine unschöne Erinnerung womöglich Angst machen und unter besonders starkem Stress, z. B. bei einer Prüfung, kann es sein, dass du blockiert bist und gar nichts mehr abrufen kannst.
Die Rekonstruktion des Erinnerten zu einer Erinnerung kann auch durch äußere manipulierende Einflüsse massiv verfälscht werden. Julia Shaw1, Rechtspsychologin aus London, konnte nachweisen, dass sich allein durch immer wiederkehrende geschickte Fragetechnik auf Dauer sogar frei erfundene Straftaten ins Gedächtnis einer Versuchsperson implantieren ließen. Diese hatten zwar nie stattgefunden, doch die Person selbst glaubte auf Dauer an ihre extern gefälschte Erinnerung. – Die Art der Befragung von Zeugen kann im Sinne gewünschter Ergebnisse sehr manipulativ sein. Aber auch ohne solche Eingriffe widersprechen sich Zeugenaussagen in der Regel: Der eine hat den Unfall so gesehen, der andere schwört Stein und Bein, dass es sich genau umgekehrt abgespielt hat.
Aufgrund seines höchst subjektiven Filters gibt es für einen Menschen keine objektive Sicht auf die Realität. Menschen mit einer innerlich besonders stark verfremdeten Wahrnehmung hoffen und behaupten sogar, es gäbe gar keine objektive Realität. Ihre Angst ist verständlich, denn die ungeschminkte Realität kann durchaus zum Fürchten sein; sie ist hart, kompromisslos und lässt keine Spielräume.
Unabhängig davon wird deine noch so löchrige, grobkörnige und wenig vertrauenswürdige Erfahrung in die aktuelle Wahrnehmung eingearbeitet. Eine einzige in einer ähnlichen Situation gemachte schlechte Erfahrung reicht aus, um bei der Einschätzung der aktuellen Sachlage zutiefst befangen zu sein. Schnell sind alle Männer rücksichtslos, alle Frauen untreu und die Bahn nie pünktlich.
Auch positive Erlebnisse spiegeln sich in deiner inneren Präsentation wider: Warum soll es nicht ein weiteres Mal gut gehen? Der Bursche auf dem dunklen Parkplatz ist doch bestimmt harmlos und die Bahn auf dem Weg zum Flughafen pünktlich? Wenn dir jemand sympathisch ist, siehst du an ihm eher die positiven Seiten. Magst du jemand so gar nicht leiden, traust du diesem miesen Kerl oder jener arroganten Zicke hingegen so ziemlich alles zu.
Grenzwertig verfremdet indes erscheint die Realität oftmals dann, wenn Ideologien oder ein Glaube, womöglich in extremer Form, mit von der Partie sind. Der Algorithmus verengt dann die Wahrnehmung so sehr, dass die ideologische Sicht mit der objektiven Realität fast nichts mehr gemein hat. Jede Diskussion wird sinnlos und zu bewegen ist nichts mehr. Hat der Algorithmus einmal fern der Realität sein Flussbett gegraben, verengt und vertieft sich dieses ganz von selbst immer weiter. Dann ist es nicht mehr weit zu Gewalt, Extremismus und Terror. Ein übermächtiges, fast nicht mehr kontrollierbares Bedürfnis kann schließlich zur totalen Fehleinschätzung einer Situation mit nachfolgendem Fehlverhalten führen, da der Algorithmus bei der Berechnung des Verhaltens von völlig überzogenen Wunschvorstellungen dominiert wird. Wird ein Mann von einer heiß begehrten Frau angelächelt, schließt er daraus womöglich: Die ist sicher scharf auf mich. Nichts wie ran! Aber vielleicht war sie einfach nur höflich.
Es muss nicht unbedingt ein Bedürfnis von innen heraus sein. Auch Menschen, die sich einer ihnen wichtigen Sache mit Haut und Haar verschrieben haben, neigen aus purer Fehleinschätzung dazu, zu glauben, ihnen sei zur Durchsetzung ihrer hehren Ziele nun alles erlaubt:
In der Einbahnstraße fährt der Radfahrer, obwohl ein Radweg existiert, in voller Absicht so gemächlich in der Mitte der Straße, dass er vom zunehmend genervten Autofahrer nicht überholt werden kann. Alles in dem wohligen Gefühl, der bessere Mensch gegenüber diesem »üblen Stinker« zu sein und diesen Klimasünder in die Schranken zu weisen.
Die Ursache für das Extrem: Der Algorithmus des Radfahrers dreht sich fast ausschließlich um sein persönliches Thema. Nur noch daraus gewinnt er seelische Energie. In seiner Überheblichkeit fühlt er sich dem Klimasünder moralisch überlegen und leitet daraus die Berechtigung ab, diesen provozieren und schließlich Macht über ihn auszuüben zu dürfen. Er bestimmt, ob überholt wird oder nicht, denn für einen seiner Meinung nach unzweifelhaft guten Zweck muss schließlich alles erlaubt sein. – Ideologie statt Übersicht und sozialem Empfinden und Denken.
Wie das? Andere seelische Quellen, seine Freunde beispielsweise, müssen zurückstehen und zuschauen, wie er sich – ohne darüber hinaus zu denken – immer weiter in sein Gutmenschentum hineinsteigert. Die Gefahr solch einseitigen Engagements ist die gleiche wie bei Drogen: Die Dosis muss immer weiter erhöht werden. Seine Verhaltensweisen werden damit zwangsläufig verbissener und seine Aktionen extremer.
Langsam aber sicher wird aus dem eben noch akzeptablen Idealisten ein starrköpfiger Tyrann mit der giftigen Traumvorstellung einer öffentlichen Verbrennung aller SUVs unter dem Beifall gleichgesinnter Massen. Gute Menschen müssten das gegen schlechte Menschen doch tun dürfen!
Auch esoterische Strömungen jeglicher Art entstammen dem reichhaltigen Werkzeugkasten deines Algorithmus. Wenn das Schönen und Manipulieren der Realität den seelischen Abwärtstrend immer noch nicht aufhalten kann, dann muss er halt zu Illusion und Fata Morgana greifen. Wie in einem Science-Fiction-Film sind dann der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt.
Das kann alles nicht wahr sein? Doch! Es scheint nur so, als ob die Natur da irgendwie chaotisch arbeiten würde, ist aber nicht so, denn es gibt im Hintergrund eine nicht verhandelbare Größe: Einen Minimalpegel an Energie, der auf keinen Fall unterschritten werden darf. Ohne diese Minimal-Energie würde das Lebewesen in die Depression fallen und – ohne Unterstützung anderer – nicht mehr lebensfähig sein.
Dein Algorithmus ist da kompromisslos: Wenn es ums Überleben geht, rechtfertigt das für ihn sogar Lug und Trug, notfalls auch Gewalt. – Sogar Gewalt gegen den eigenen Träger. Beispiel Heißhunger: Wenn der Energiepegel unter eine kritische Grenze zu fallen droht, zwingt dich dein Algorithmus dazu, den Kühlschrank zu plündern – mentaler Widerstand zwecklos, eine unkontrollierbare Fressattacke wird als letztes Mittel eingesetzt, dich durch