Wenn also gegen Gott gerichtete Kräfte solche „Wunder“ vollbringen können, dann ist es nicht verwunderlich, wenn es auf der ganzen Welt Orte religiöser Verehrung gibt, in denen Kräfte zum vermeintlichen Heil oder zum tatsächlichen Unheil wirksam werden. Der Volksmund ist sich dessen unzweifelhaft bewusst, sonst würde er nicht zahlreiche Geschichten erzählen, wonach jemand dem Satan seine Seele verkauft hat, um einen irdischen Erfolg zu erringen, der ihn aber immer am Ende das Seelenheil kostet. Ob diese Orte der Heilserfolgsversprechung dann Delphi oder Lourdes, Fatima oder Ephesos heißen, ist von nebensächlichem Interesse. Sie versprechen viel, halten aber nicht nichts, was am besten für die Menschen wäre, sondern bewirken etwas beim Menschen, was er zumindest teilweise als heilsam empfindet.
Doch Gott geht es beim Menschen nicht vordergründig um gute Empfindungen. Bei Gott sollten die Israeliten lernen. Der Gott Israels ist der höchste Gott, dem sich alle anderen „Götter“ beugen müssen. *11 Und so beobachtet man in der Geschichte der Menschheit, dass die Menschen jenseits von Israel viele Götter mit Potenzen haben, denen sie sich unterwerfen können, um Gunst zu erfahren. Doch nur der Gott Israels ist der höchste Gott. Er ist der Eine, der Himmel und Erde erschaffen hat und der allein die Menschen zu ihrem Heilsziel bringt. Diesem Gott geht es nicht nur darum, das Leben der Menschen zu erleichtern, sondern Er hat die Macht und das Vermögen, den Menschen das göttliche Leben zu geben, das von einer ganz anderen Art ist, als das endliche Leben, über das die anderen Götter beschränkte Macht haben (Mt 10,28). Als Jesus sagt: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen; fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als auch Leib zu verderben vermag in der Hölle!“ (Mt 10,28) spricht er genau diesen Sachverhalt mit an. Ehrfurcht soll man nicht vor den „Heilanden“ und Göttern der Heiden haben, sondern allein vor dem Gott Israels. Er allein hat die souveräne, alles umfassende Macht über das Leben und Weiterleben jedes einzelnen Menschen. Die anderen Götter bleiben Nichtse, wenn man sie auch so behandelt. Man soll sie ignorieren und nicht auf ihre Werbeversuche eingehen, denn man muss immer teuer bezahlen.
Die Schwierigkeit für den Menschen besteht darin, dass Gott Seine Macht nicht jederzeit zeigt. Er baut die neue Welt und das Heil des Menschen über das Vertrauen in Ihn auf. Kadavergehorsam oder berechnende Anbetung sind Ihm wertlos. Er bringt den Menschen zu seinem Verherrlichungsziel. Dazu muss der Mensch den einzigen Weg gehen, den es zu diesem Ziel geben kann. Im Zentrum, am Anfang und am Vollendungsziel dieses Weges steht Jesus Christus. Von Ihm muss man sich ziehen lassen und das kann man nur, wenn man sich Ihm anvertraut. Nicht ein bisschen, nicht versuchsweise oder halbherzig, sondern voll und ganzherzig.
Zu diesem Vertrauen oder „Glauben“ gehört aber das Verstehen und das Lieben der innersten Beweggründe des Wesens Gottes und der Heiligkeitsverhältnisse zwischen Ihm und der Schöpfung. Was ist damit gemeint? Da ist die unauslotbare Zuneigung Gottes zu Seiner Schöpfung, die darin zum Ausdruck kommt, dass Gott selber in Seinem Sohn die Rechtfertigung und Heiligung der Menschen erwirkt, indem Er Seinen Sohn die Sünden der Menschen sühnen und die Menschen immer näher zu sich ziehen lässt. Wer die Notwendigkeit dazu nicht nur erkannt, sondern auch aus vollem Herzen, d.h. mit Seinem ganzen Wollen erfasst hat, wird dem Wesen Gottes so nachhaltig nahegebracht, dass er es ganz lieben und anstreben lernt. Es gibt keine Vollendung der Erlösung für den Menschen, wenn er sich nicht dem Wesen Gottes angleichen lässt. Der erste Schritt dazu geht über die vertrauensvolle Hingabe an Christus, weil in Ihm Gott dem Menschen gerade am Kreuz von Golgatha so nahegekommen ist, dass Er anstelle des sündigen, unerlösten Menschen getreten ist. Und nun darf im Vertrauen aber auch der Mensch Gott nahekommen.
Diese Heilsvorstellung ist eine ganz andere als die Heilsvorstellungen der Antike oder der Religionen, wo der sündige Mensch allenfalls zu einem besseren Menschen wird, dessen Entwicklung immer mit dem Tod endet und nicht darüber hinausgehen kann, denn der Herr des Totenreiches ist Christus. Andere „Herren“ regieren die Welt nur vorübergehend, denn es ist eine sterbende Welt.
Die Götter der Heiden können diese persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch, die zur Erlösung erforderlich ist, nicht herstellen. Sie können den Menschen eine Gunst erweisen, die sie nicht vor dem Tod und vor der Sünde bewahrt. Für das Jenseits, für das Leben nach dem Tod, für das eigentliche Leben, für das endgültige Leben, sind sie inkompetent. Allein Christus hat hier die umfassende, ja die alles, auch das Totenreich umfassende Hoheit. Dies ist die Lehre der Bibel. Christus ist also nicht wirklich in Konkurrenz zu den anderen Göttern. Er ist konkurrenzlos. Das Christentum wie es in der Bibel dargestellt wird, *12 ist nicht eine von vielen Religionen. Die Bibel selbst widerlegt diese Ansicht, der ein Missverständnis zugrunde liegt, das für Außenstehende unvermeidlich scheint. Das Kirchenchristentum mag einer Religion vielleicht sehr nahekommen. Die biblische Lehre über den Christus gehört zu einer eigenen Kategorie. Sie „spielt“ gewissermaßen „in einer eigenen Liga“. Die Bibel, bzw. die biblischen Autoren, nehmen für sich die Bezeugung einer einmaligen, nämlich direkt von Gott stammenden Wahrheit in Anspruch: Unterstützt wird dieses Selbstverständnis dadurch, dass die Bibel ein in sich geschlossenes und vollständiges Weltbild erklärt.
Die christlichen Gemeinden, die der Hebräerbrief anschreibt, befanden sich in einem Umfeld, wo es eben nicht die glorreiche, philosophisch unanfechtbare neue Lehre über den Zimmermannssohn aus Galiläa gab und sonst nur primitiven Aberglauben. Man muss sich vergegenwärtigen, wenn man dazu in der Lage ist, dass die Unvergleichlichkeit und Größe des Evangeliums nur dann erkannt werden kann, wenn man es bereits kennt und verstanden hat. In dem Maße, wie es die Menschen nicht verstanden haben, selbst wenn sie sich mit dem christlichen Glauben verbunden fühlten, im gleichen Maße ging dieser Glaube auch unter und hatte die Charakteristiken nicht mehr aufzuweisen, die das Evangelium so einzigartig machten. Für einen Heiden war das Evangelium ein Kuriosum, das man wahlweise verspotten oder belächeln konnte. Das ist geradezu die logische Folge davon, wenn man es nicht richtig verstanden hat. Es ist also genau umgekehrt. Nicht der christliche Glaube erstrahlt über andere als Wahrheit von unüberbietbarer Kraft und Logik, sondern er wird zur Kenntnis genommen als ein sonderbarer Emporkömmling im Reigen der Religionen, den man kaum ernst nehmen konnte, wenn man nach den herkömmlichen Maßstäben urteilte.
Der spätere Kaiser Konstantin wird oft als herausragende Persönlichkeit beschrieben, weil er die Weitsicht gehabt haben soll, das Christentum als das Völkervereinende der Zukunft zu erkennen und es sich so zu Nutze zu machen. Tatsächlich kann man sich den Aufstieg des Christentums nicht ohne Konstantins politische Weichenstellungen zugunsten der Kirche, die sich als „katholische“ bezeichnete, vorstellen. *13 Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass das Christentum, das Konstantin, der von Haus aus ein Verehrer Apollons war, kennen lernte, sich in vielem bereits grundlegend unterschied von dem Christentum des ersten Jahrhunderts. Aus den christlichen Gemeinden war eine Kirche geworden, die sich bereits auf einen gefährlichen Irrweg begeben hatte.
Wie gesagt, die Götter der Völker der Antike waren mächtig und einflussreich. Und das nicht nur auf dem Papier. Und ob der Gott, der Konstantin bei der Schlacht an der Milvischen Brücke ein Zeichen setzte, der Gott Israels war, nur weil er für Konstantin eine Art Kreuz erscheinen ließ, *14 ist noch lange nicht ausgemacht. Im Zeichen dieses speziellen Kreuzes wurden nach Konstantin bis in die Gegenwart noch unzählige Gräuel verübt, die man unmöglich dem Walten des Geistes Christi zuschreiben kann. Gott irrt sich nicht, auch nicht darin, wem Er Seinen Geist gibt. Auch die anderen Völker der Antike, einschließlich der Griechen und Römer, bauten ihre Tempel und Altäre. Auch sie brachten, wie die Juden, ihren Göttern Brand- und Blutopfer dar, um ihre Gunst zu erwerben. Da hat es nicht einer dem anderen nachgemacht. Ihr gemeinsamer Vorvater Noah und dessen Söhne hatten dieses Brauchtum weitergegeben (1 Mos 8,20). Vom Grundsatz her, besteht bei allen Völkern ein Verständnis dafür, dass man der höheren Macht etwas geben muss, wenn man etwas von ihr haben will. Vertrauen, Zuneigung wenn möglich, wenigstens Gehorsam. Wobei aus