Er tat das, was er immer tat, wenn die Lage unübersichtlich war: Fakten zusammentragen und dann auswerten. Angeblich hatte ein Wolf ein Schaf dieser Wanderschäferin gerissen. Als Erstes würde er mit ihr reden. Er hatte bei der Fahrt eine Schafherde direkt bei Königsfeld gesehen. Da würde die Schäferin ja nicht weit entfernt sein. Danach würde er Karsten Schober anrufen.
9. Kapitel
In Julia Scheffel zog sich alles zusammen, als sie ihre Hütehunde bellen hörte. Das Weideland war abgegrast und sie hatten begonnen, die Schafe auf eine nahe gelegene verwilderte Fläche zwischen Königsfeld und dem Wochenendhausgebiet Im Strohdell zu treiben, um sie im Auftrag der Gemeinde durch kontrollierte Beweidung wieder nutzbar zu machen. Die Bedeutung der Schafe für die Landschaftspflege wuchs. Bis eben also ein ganz normaler Arbeitstag. – Bis die Hunde bellten.
Nein, es war nicht der vertraute Klang, mit dem sie die Herde leiteten und verlorene Schafe zurückführten. Dieses Bellen hatte sie zuletzt als Kind gehört, damals, als Oskar und Anton Großvaters Herde hüteten. Damals, als der Großvater sagte, der Wolf sei in der Nähe, er und die Hunde würden es spüren.
Sie umklammerte Großvaters Hütestab fester. Respekt vor dem Wolf zu haben, war klug, aber Julia hatte Angst. Angst, ihre traumatischen Kindheitserlebnisse erneut durchmachen zu müssen. Zum Glück hatte sie der italienische Hundezüchter heute früh angerufen. Die Ausbildung der Herdenschutzhunde war abgeschlossen. Schon bald würden sie und die Hütehunde Verstärkung bekommen.
Die Hütehunde hatten aufgehört, die Herde zu treiben, und blieben, unruhig bellend, vor einem Verhau aus Brombeeren und Schwarzdorn stehen. Panik kam in Julia auf. So schnell sie konnte, eilte sie zu den Hunden, die sich gar nicht beruhigen wollten. Hatten sie einen Wolf in dem Verhau ausgemacht?
Als sie das undurchdringliche Dickicht erreicht hatte, konnte sie nichts sehen. Entschlossen schlug sie ein paar Mal mit dem Hütestab auf das Strauchwerk – schlagartig war der ganze Verhau belebt. Es krachte, rumpelte und schnaufte. Julia stockte der Atem. Doch gleich darauf entspannte sie sich ein wenig: Eine Rotte Wildschweine räumte fluchtartig ihr dornenbewehrtes Versteck. Vermutlich hätten sie es etwas langsamer angehen lassen, wenn sie geahnt hätten, dass die einzige Waffe, die sie draußen erwartete, ein Holzstock war, aber ihr ganzes Schweineleben lang hatten sie die Erfahrung machen müssen, dass Hundegebell und Schlagen auf die Büsche mit tödlicher Gefahr durch Jäger verbunden war.
Mit scharfem Ruf befahl Julia den Hunden, am Platz zu bleiben. Sie gehorchten ihr widerstrebend, allerdings nicht lange. Winselnd schlichen sie sich zum Dornenverhau.
»Verdammt noch mal, was soll das? Spinnt ihr?« Julias Nerven lagen blank. Was machten ihre Hunde? Die Sauen waren keine Gefahr für die Herde. Die Hunde wussten das. Trotzdem rückten sie nicht von der Hecke ab. Ob der Wolf doch eines der Schafe geholt hatte und die Sauen den Kadaver auf der Suche nach tierischem Eiweiß gefunden hatten?
Sie ging in die Knie, um wenigstens ein kleines Stück in den Verhau schauen zu können. Die Hunde wichen ihr nicht von der Seite, wagten sich allerdings auch nicht in die Dornen hinein. Julia wollte gerade schon wieder aufstehen, als sie einen Schuh in den Dornen sah. Es war ein grober Männerschuh. Solche Schuhe hatte doch … Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. – Nein, das konnte nicht sein! Obwohl … dieses Brandzeichen im Leder hatte nur einer.
Sie holte tief Luft und zwängte sich ein kurzes Stück in die Dornen hinein, um den Schuh herauszuziehen, doch er hing fest. Sie zog kräftiger, bis ihr schlagartig bewusst wurde, dass der Schuh nicht festhing, sondern sein Besitzer noch in ihm steckte. Sie kroch zurück, stand auf und übergab sich. Dann nestelte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte mit zitternden Fingern den Notruf.
10. Kapitel
Wie immer morgens, wenn die Kinder in den Schulen und die Berufstätigen ausgeschwärmt waren, umgab das Dorf eine beklemmende Stille. Heute wollten noch nicht einmal die Vögel diese Stille durchbrechen. Sie hatte etwas Unheimliches, Bedrohliches. Kassiopeia pflegte die Blumen auf ihrer Fensterbank, als ihr gesamter Körper plötzlich anfing zu zittern und auch ohne die Martinshörner von Polizei und Rettungsfahrzeugen hören zu können, war ihr sofort klar: Es würde ein Blutdorf geben. Das erste Opfer war offensichtlich schneller da, als sie befürchtet hatte.
11. Kapitel
Auf dem Weg zur Wanderschäferin geriet Mülenberk in eine Armada von Blaulichtfahrzeugen. Er fuhr sofort rechts ran und ließ sie passieren, um sich nach ihnen in den jetzt wieder spärlichen Autoverkehr einzufädeln. Sie hatten dieselbe Richtung.
Als Mülenberk Königsfeld erreichte, rückte gerade die Feuerwehr aus. Die Eifel fühlte sich nun alles andere als beschaulich und idyllisch an.
Er umfuhr Königsfeld auf der L83 Richtung Bad Neuenahr. Auf der Anhöhe stoppte er. Die Blaulichtfahrzeuge standen aufgeregt blinkend nicht weit weg von der Wochenendhaussiedlung um ein größeres Gebüsch versammelt. Rauch war keiner auszumachen.
Er nahm sein Fernglas aus dem Wagen und konnte erkennen, wie Männer der Feuerwehr mit der Motorsäge eine Schneise in das Dornengeflecht frästen, immer wieder unterbrochen von Anweisungen eines uniformierten Polizisten, der offensichtlich die Regie über das Szenario übernommen hatte. Nach kaum drei Metern schienen die Polizisten zufrieden zu sein. Einer von ihnen schlug sich nun in den Busch und bückte sich, um wenige Augenblicke später herauszuhasten und sich zu übergeben. Da schien sich ihm kein angenehmer Anblick geboten zu haben.
Die Feuerwehrleute standen in der Nähe und hatten die Köpfe zusammengesteckt, als sie aufgefordert wurden, wieder abzurücken. Der Regisseur bedankte sich bei jedem mit einem kurzen Handschlag, dann fuhren sie zurück ins Feuerwehrhaus. Auch wenn es noch früh am Tag war, würden sie vermutlich versuchen, das Erlebte mithilfe von ein oder zwei stärkenden Schnäpsen zu verarbeiten.
Der Regie-Polizist telefonierte kurz, dann besprach er sich mit dem Fahrer des Rettungswagens, der allem Anschein nach ebenfalls nicht mehr gebraucht wurde und den Einsatzort ohne Ladung verließ.
Plötzlich erkannte Mülenberk mitten im Geschehen die Wanderschäferin mit ihren beiden Hunden. Der Polizist sprach kurz mit ihr, machte sich einige Notizen und verabschiedete auch sie mit einem Handschlag vom Einsatzort. Mit den Hunden, die sie kaum beruhigen konnte, ging sie zurück zu ihrer Herde.
Mülenberk wusste nicht, was er tun sollte: Hier warten oder zur Schäferin fahren? Es schien ja so, als ob zwischen Brombeeren und Schwarzdorn etwas Fürchterliches zum Vorschein gekommen war, was einer kriminaltechnischen Untersuchung bedurfte. Das konnte dauern, weshalb er sich Richtung Schafherde auf den Weg machte.
Wenn er gewusst hätte, wie schnell die Spurensicherung am Fundort sein würde, hätte Mülenberk vermutlich gewartet, und mit Sicherheit hätte er seinen Platz nicht verlassen, wenn er auch nur ansatzweise geahnt hätte, wer die Ermittlungen führte.
12. Kapitel
Sie waren gemeinsam von Bonn angereist. Hauptkommissar Marius Fröhlich war alles andere als begeistert, als er von Oberstaatsanwalt Dr. Westenhoff den Marschbefehl nach Preußisch Sibirien bekommen hatte.
»Mensch, Herr Westenhoff, wieso ziehen Sie uns diesen Fall an Land? Der gehört in erster Zuständigkeit den Rheinland-Pfälzern. Wir haben in Bonn wahrlich genug Arbeit.«
»Mein lieber Fröhlich, nun beruhigen Sie sich doch. Das Opfer war mit seinem ersten Wohnsitz in Bonn gemeldet. Na jedenfalls wenn sich herausstellt, dass das Opfer tatsächlich