»Karlotta-Sophie Jacobi!«, rief ihre Mutter wieder. »Komm sofort zu mir!«
Doch Motte machte es sich auf der Fensterbank gemütlich und strich sich das lange schwarze Haar hinter die Ohren. Warum musste ihre Mutter nur immer so rumstressen? Sie würde bestimmt nicht kommen. Nie im Leben!
Draußen im Flur begann ihre Mutter, eine Tür nach der anderen zu öffnen. Erst vor einer Woche war Motte – natürlich aus Versehen – mit einer brennenden Kerze gegen ihre Tür gekommen und die Flamme hatte einen winzigen braunen Fleck in den sonst makellosen Lack gebrannt. Ihre Mutter hatte ein Riesentheater gemacht. Aber Motte mochte den Fleck. Wenn sie die Augen zusammenkniff, sah es aus, als hätte sich ein kleiner dunkler Falter auf der Tür niedergelassen.
Direkt gegenüber von Mottes Zimmer lag der Aufgang in das Dachgeschoss der Villa: Dort lebte Mottes Großmutter, Marlene Jacobi. Früher war sie Französischlehrerin gewesen. Und wenn ihr etwas gegen den Strich ging, schimpfte sie noch immer auf Französisch. Grandmère trug grundsätzlich Seidenstrümpfe, las Klassiker und liebte Edith Piaf, eine französische Sängerin. Motte fand ja, dass diese Piaf furchtbar peinliche Lieder sang – immer mit ganz viel l’amour – Liebe und l’armes – Tränen. Aber abgesehen von ihrem Musikgeschmack war Grandmère top.
Ganz hinten am Ende des Flurs befanden sich zwei weitere Zimmer: Mottes Lieblingsversteck – das alte Gästezimmer, das ihre Mutter so gut wie nie betrat, weil sie sich vor den silbernen Motten fürchtete, die dort in den Vorhängen nisteten.
Und dann war da noch das Zimmer mit der verschlossenen Tür. Laut Grandmère war der Schlüssel vor gut einem halben Jahrhundert verloren gegangen. Motte hatte da allerdings ihre Zweifel. Denn manchmal, wenn sie nachts in ihrem Versteck saß, hörte sie aus dem Zimmer nebenan Geräusche. Aber jedes Mal, wenn sie Grandmère darauf ansprach, fiel diese prompt ins Französische und Motte begriff, dass sie nicht darüber reden wollte. Von ihrem Vater wusste Motte nur, dass dieser Raum früher das Kinderzimmer von Grandmères verstorbener Zwillingsschwester Gertrud gewesen war. Motte hätte ein Dutzend ihrer Lieblingsbücher dafür gegeben, nur um einmal dieses Zimmer zu betreten.
Draußen auf dem Flur kamen die Schritte näher.
»Wo steckt dieses unmögliche Mädchen nur schon wieder?«, hörte Motte die genervte Stimme ihrer Mutter. Nun verharrten die Schritte genau vor der Tür des Gästezimmers. Motte lauschte. Ihre Mutter wollte doch nicht ausgerechnet heute hereinkommen?
»Ich fürchte, wir müssen die Stunde verschieben«, seufzte Frau Jacobi.
»Verschieben?«, quäkte Superhirni. »Sie wissen, dass Nachhilfestunden, die nicht vierundzwanzig Stunden vorher abgesagt werden, voll bezahlt werden müssen?«
»Ach?«, sagte Frau Jacobi.
Und Motte konnte förmlich hören, wie ihre Mutter die Lippen spitzte. So wie sie es immer tat, wenn sie sich ärgerte.
»Nun, dann geht das von Karlottas Taschengeld ab!« Mit diesen Worten machte Frau Jacobi auf dem Absatz kehrt und verließ den ersten Stock.
Mist! Von diesem Geld wollte Motte doch ein neues Haus für Maja kaufen!
Sie zog die Beine an und kauerte sich zusammen. Hinten drückte das Buch, das sie in ihren Hosenbund gestopft hatte. Motte angelte es heraus und strich über den Titel. Es war eine alte Taschenbuchausgabe von Robinson Crusoe, die Papa ihr ausgeliehen hatte. Motte war schon zur Hälfte durch. Dieser Crusoe war echt ein Glückspilz. Klar war es blöd, dass sein Schiff untergegangen war, aber dafür hatte er eine ganze Insel für sich allein! Keine kleinen, nervigen Brüder wie Till und Ole. Keine Mutter, die dauernd Stress wegen der Schule machte, und schon gar keine Eindringlinge, die ihm seine Insel streitig machen wollten.
Sie schlug das Buch auf. »Als ich eines Mittags nach meinem Boot hinauswanderte, entdeckte ich im Sande des Strandes die Spur eines Menschenfußes. Ich stand wie vom Donner gerührt, kein Gespenst hätte mich mehr in Schrecken setzen können.«
Motte las die Stelle zweimal. Wie kam denn jetzt dieser Fußabdruck an den Strand? War Robinsons Insel doch nicht so unbewohnt, wie es den Anschein gehabt hatte? Motte konnte seinen Schock supergut nachvollziehen. Denn auch ihre Insel war in Gefahr.
Sie legte das Buch zur Seite und starrte aus dem Fenster zum alten Kutscherhaus hinüber, das halb verdeckt unter der großen Kastanie stand. Früher waren dort im Stall vier Pferde und zwei Kutschen untergebracht. Und in der kleinen Wohnung darüber lebte der Kutscher. Natürlich war aus dem Kutscherhaus längst eine gewöhnliche Garage geworden, in der die Jacobis ihre Autos und Fahrräder parkten und im Winter die Tischtennisplatte unterstellten. Nur die Wohnung war erhalten geblieben. Zwischendurch hatte dort ein Au-pair gewohnt. Aber nun stand die Kutscherwohnung schon einige Jahre leer.
Und wenn es nach Motte gegangen wäre, hätte sich daran auch nie etwas geändert! Sie war von Anfang an dagegen gewesen!
Nicht dass dies die Entscheidung ihrer Eltern und ihrer Großmutter in irgendeiner Weise beeinflusst hätte.
»Das ist doch kein Weltuntergang, Motte«, hatte Papa gesagt und versucht, sie an sich zu ziehen. »Sie ist deine Cousine!«
Na und? Nur weil dieses Mädchen rein zufällig die Tochter von Papas Schwester war, brach Motte nicht automatisch in Freudentränen aus! Schlimm genug, dass die Briefe ihrer Cousine seit Jahren Grandmères Briefkasten verstopften! Jetzt würde sie sich auch noch mit ihrer ganzen Familie hier breitmachen. Motte knabberte an ihrer Unterlippe. Aber das würde sie nicht zulassen. Sie würde diese Blums aus dem Kutscherhaus vertreiben, ehe die bis drei zählen konnten!
In diesem Augenblick drang von der Straße lautes Motorengeräusch herauf. Motte spähte zum Gartentor. Unten auf der Einfahrt kam ein alter weißer VW-Bus zum Stehen. An den Seiten war er mit Blumen aus schwarzer Folie beklebt. Selbst ausgeschnittenen Blumen. Wie peinlich war das denn! Dieser VW-Bus konnte wirklich nur den Blums gehören.
Was um Himmels willen machten die schon hier? Ihre Mutter hatte doch behauptet, dass sie erst abends ankommen sollten. Und jetzt war es gerade mal Mittag. Aber Motte blieb keine Zeit, sich einen Reim darauf zu machen, denn schon wurde die hintere Tür des Busses aufgeschoben.
Motte presste die Nase gegen die kalte Fensterscheibe.
2. Song
»Herrjemine, wir sind viel zu früh!«, sagte Frau Blum und pustete sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. »Das wird Vanessa überhaupt nicht gefallen.«
Herr Blum warf seiner Frau einen belustigten Blick zu. »Vielleicht hätten wir doch an der letzten Autobahnraststätte warten sollen, bis es fünf Uhr ist«, frotzelte er.
»Nein!«, lachte Frau Blum. »Aber es wird ein Schock für sie sein.«
Lou liebte das Lachen ihrer Mutter und beugte sich nach vorne zwischen ihre Eltern. »Im schlimmsten Fall kannst du sie ja medizinisch versorgen«, schlug Lou vor. Schließlich war ihre Mutter Ärztin.
In diesem Moment meldete sich Anton zu Wort. »Freut sich Tante Vessa nicht?«, fragte er ängstlich.
Lou sah zu ihm. Anton hatte genauso tiefblaue Augen wie ihr Vater. Nur mit einem ganz leichten Silberblick und seine runde Nase war übersät mit Sommersprossen.
»Aber logo freut sie sich«, versicherte Lou.
Anton presste seinen Strickkäfer, Kirk, an die Brust. Das tat er immer, wenn er unsicher war oder etwas nicht verstand. Antons einundzwanzigstes Chromosom war etwas anders gebaut als das von Lou – in der Medizinersprache hieß das Downsyndrom – und Ironie verstand er nicht.
»Alle freuen sich auf uns: Tante Vanessa, Onkel Oliver, Grandmère, Motte, Till