Mordnacht. Dieter Weißbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Weißbach
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783869066455
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würde, blieb unerfüllt. Das verdiente Geld kassierte der Vater, Prügel gab’s trotzdem weiter reichlich. Ruhe war erst, nachdem er von einer Kuh mit einem gezielten Tritt ins Jenseits befördert wurde. Als Jahre später auch ihre Mutter starb, verkaufte sie das Vieh und das bisschen Grund, das nach Abzug der Beerdigungskosten geblieben war, und besorgte sich eine Ganztagsarbeit. Nur einmal hatte sie seitdem den Landkreis verlassen, vor bald zwanzig Jahren, zur Beerdigung ihrer jüngeren Schwester, die nach Huglfing auf einen Bauernhof geheiratet hatte, und noch einmal, als sie bald darauf erneut hinfuhr, warum auch immer. Nur so viel hat sie verstanden, dass der Bauer, der jetzt alleine lebte, irgendwie meinte, dass jetzt vielleicht sie … Aber weiter kam er nicht. Die Vorstellung, was das mit sich bringen würde, jede Nacht mit einem Mann und so. Sie tat sich ja schon schwer damit, jemandem nur die Hand zu geben.

      Bruckmeiers Martha, wie sie sich selbst nannte, war keine reizvolle Person. Alles an ihr war eckig, ihr Gang, die Art zu reden, das Kinn, das sie bei jedem Schritt ruckartig nach vorne bewegte, sogar ihr Blick. Es gab nur einen Grund, sich für sie zu interessieren: ihre Sparsamkeit. Jeder im Dorf wusste, dass sie Geld hatte, wo wäre es denn hin. Doch sie ließ sich auf nichts ein, blieb allein. Die einzige Abwechslung in ihrem Leben waren die Jahreszeiten, die kamen und gingen, hin und wieder ein neuer Nachbar und das Fernsehprogramm. Sie ließ die anderen in Frieden, und die sie. Nur einmal geriet sie aus dem Tritt. Damals, beim Bau der Ortsumgehung, als das bemalte Haus zwischen Farchant und Oberau, ein kleines Häuschen, von der Straße aus gut zu sehen, dazu ein paar Gewächshäuser, als das alles einfach abgerissen wurde und der Besitzer von heute auf morgen wegzog. Aber was genau sie so tief getroffen hatte, der Verlust des Eremiten, seiner Gewächshäuser, des bemalten Hauses – etwas Besonderes war es nicht gewesen –, erfuhr nie jemand. Solange der Baufortschritt es erlaubte, ging sie hin, bückte sich, hob etwas auf, verstaute es in ihrem Rucksack, lief hierhin und dorthin, schaute, bückte sich, klaubte und ging wieder weg. Keiner dachte sich etwas dabei, seltsam war sie ja schon immer gewesen. Wenn jemand sie ansprach zum Beispiel, vielleicht ein vorwitziger Wanderer, der nach dem Weg fragte, ruckte sie erst mit dem Kopf und begann sogleich, vor sich hinzuschimpfen. Tourette, sagten die, die es wissen mussten. Jetzt war sie eben noch ein wenig mehr »tourette«. Bestimmt auch ein Grund, weshalb sich nie jemand für sie gefunden hatte, denn wie gesagt: Geld wäre da gewesen, also rentiert hätte sie sich. Für Veronica war es ein Glück. Die verschrobene Alte, bei der jeder lieber die Straßenseite wechselte, war die ideale Küchenkraft. Sie arbeitete schnell und sauber, diskutierte nicht, war immer einsatzbereit, und was sie kochte, schmeckte. Bevor sie allerdings anfing, stellte sie zwei Bedingungen: Die erste war, dass sie sich keine Vorschriften machen lassen wollte. Dafür, meinte sie, sei sie dann doch zu alt. Entweder, sagte sie, es passe oder eben nicht Die zweite war, dass sie allein arbeiten wolle. Allein oder gar nicht. Auch das war ganz im Sinn ihrer neuen und vermutlich letzten Arbeitgeberin.

      Mit einem hingeworfenen »Komm gleich« verschwand Veronica in der Küche. Sekunden später war sie wieder da.

      »Na, heut ganz allein …?«

      »Was? … Entschuldige, Vroni, ich war grad in Gedanken. Es wird schon noch wer kommen. Schenkst du mir bitte ein Weißbier ein?«

      »Zum Essen auch was?«

      »Ja, das Cordon Bleu von der Tageskarte, das hätt ich gern.«

      Erst jetzt sah Lufti sich um. Im kleinen Gastraum saßen ausschließlich Leute, die er kannte. Nicht ein einziger Fremder, stellte er zufrieden fest. Nicht dass er etwas gegen Auswärtige gehabt hätte, es war nur einfach ein gutes Gefühl, noch einen Ort zu haben, an dem man unter sich war. Und das war eh nur im Winter, außerhalb der Wandersaison, der Fall. Er hatte seinen Rundblick schon fast beendet, als ihm doch noch ein neues Gesicht auffiel. Am Bistrotisch, gleich am Eingang. Kein beliebter Platz. Besonders im Winter, wenn jeder Gast einen Schwall kalter Luft hinter sich herzog. Ihr schien es nichts auszumachen. Vor sich hatte sie einen leer gegessenen Teller, Messer und Gabel auf fünf Uhr, die Papierserviette unter das Besteck geklemmt. Den Resten nach zu urteilen, musste es ein Schnitzel mit Kartoffelsalat gewesen sein. Eine Bewegung ihres Kopfes vermittelte ihm für einen Moment das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Wer ein Schnitzel bestellt, setzte er seinen Gedankengang fort, zeigt damit, dass er sich nicht für etwas Besseres hält. Sie hätte auch Salat mit Scampis nehmen können. Er hätte es ihr nicht übel genommen. Es hätte zu ihr gepasst. Innerhalb von Sekunden hatte er ein Bild vor sich: die Vorstellung einer Frau aus der Stadt, die aufgrund einer Trennung ein paar Tage allein sein will und sich dazu einen Ort aussucht, den sie vielleicht vom Durchfahren kennt und der ihr auch erst nach längerem Nachdenken in den Sinn gekommen ist. Ein Ort, an dem niemand sie vermuten, folglich auch nicht suchen wird. Sie war die, die verlassen hatte. Keine Anzeichen von durchweinten Nächten etwa oder Nachlässigkeiten an ihrem Äußeren, kein unsteter Blick. Sie war die, die gehandelt hatte.

      Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu, blieb mit den Gedanken jedoch bei der Frau. Wie lange mochte sie es vor sich hergeschoben haben? Er hielt das Blatt vors Gesicht und schielte über den Rand. Noch einmal hatte er den Eindruck, ihr schon einmal begegnet zu sein. Waren es die Augen? Der ernste Zug um die Mundwinkel?

      Bevor ihre Blicke sich treffen konnten, schaute er weg.

      Veronica brachte sein Weißbier und machte ein Kreuz auf den Bierdeckel. »Zum Wohl. Cordon Bleu dauert heut ein bisserl, das macht die Mama, die Martha ist krank.«

      »Krank? Die Martha? Was hat sie denn?«

      »Ich weiß auch nicht. Gestern ist sie einfach weg, und dann hat sie angerufen und gesagt, dass sie sich erkältet hat und dass sie zum Bürgermeister muss.«

      »Zum Bürgermeister? Zum Peter?«

      »Ja. Aber wegen was, keine Ahnung. Na ja, irgendeine Laus wird ihr schon über die Leber gelaufen sein. So, jetzt muss ich aber wieder.«

      Sie nickte Richtung Eingang, drehte sich um und ging.

      »Hat’s geschmeckt?«, hörte er sie fragen. »Noch einen Assam?«

      Die Antwort ersoff im Gelächter der Farchanter Kuhfluchtschützen, deren Stammlokal vor einiger Zeit abgerissen worden war und die hier eine neue Bleibe gefunden hatten. Veronica nutzte den Moment und kündigte an, eine Runde Obstler ausgeben zu wollen. Sicher ist sicher.

      Keiner hatte damals verstanden, warum sie weggegangen war. Ohne ein Wort, und das kurz vor Beendigung ihrer Ausbildung. Sie wollten doch expandieren. Das Hotel, das Restaurant. Und sie hatte auch nie etwas anderes gewollt, zumindest hatte sie nie etwas gesagt. Aber es half alles nichts. Kein Herumgebrülle ihres Vaters, kein Beleidigtsein, kein Drohen mit dem Entzug des Erbes. Als hätte jemand einen imaginären Stecker gezogen.

      »Ist es so schlimm? Musst du wirklich gehen? Jetzt red doch endlich, Veronica. Himmelherrgottsakrament!« Nicht einmal ihre Mutter war ihr beigekommen. »Ist es wegen dem Peter? Jetzt sag doch endlich. Mein Gott, Vroni, kein Mann ist es wert, dass du wegen ihm dein Leben hinwirfst. Ich bitt dich inständig, komm wieder zur Vernunft.«

      Keine Chance. Keine Erklärung. Nichts.

      Am nächsten Morgen packte sie ihren Rucksack und verschwand. Als sie gegen Mittag vom Beifahrersitz eines Dortmunder Lkw kletterte, fand sie sich auf der anderen Seite der Alpen wieder, im Grödnertal, in einem Ort namens Wolkenstein. Sie ging zur Gemeindeverwaltung und fragte, ob es vielleicht irgendwo einen Bauern gebe, der eine Almerin gebrauchen könnte oder irgendetwas in der Art. Sie hätte Gastronomie gelernt, sähe darin aber keine Zukunft für sich. Sie wolle etwas anderes machen. Dann schickte sie ihren Eltern eine Postkarte. Es ginge ihr gut und sie sollten sich bitte keine Sorgen machen, eines Tages würde sie ihnen alles erklären. Aber nicht jetzt. Am nächsten Morgen brachte sie ein Angestellter der Gemeindeverwaltung zu seinem Schwager, der dringend eine Hilfe benötigte. Eine geschlagene Stunde fuhren sie durch die Berge, erst auf Teer, dann auf unbefestigten Forstwegen, irgendwann nur noch querfeldein.

      Der Anblick, der sich ihr bot, war ein Schock. Das war kein Hof, das war eine Ruine. Sie lauschte dem sich entfernenden Geräusch des alten Fiats und fragte in die Stille: »Hallo? Ist da wer?«

      Dann drehte sie sich um und machte, dass sie fortkam.

      »Woll‘n Sie zu mir?«