In diesem Jahr hatte es im November viel geregnet, und der See war prallvoll wie ein bis an den Rand gefüllter Pool. Hinter der Insel, fast schon an der Südspitze, lag Lagna, der Fundort der Leiche, und Simon hatte die Bilder vor Augen, wie Carla und ihre Leute dort jetzt das Gelände sicherten und erste Indizien und Hinweise sammelten. Er kannte diese Abläufe nur zu gut, zu oft hatte er sie in seiner Frankfurter Zeit als Polizeireporter und dann in Italien an der Seite von Carla erlebt. Und doch war er gespannt, was nun auf ihn zukam. Jetzt bewährte sich immerhin, dachte Simon, dass er seit einem halben Jahr offiziell als Übersetzer zugelassen war. Carla hatte ihm das nach ihrer letzten gemeinsamen Ermittlung vorgeschlagen, überzeugt davon, dass er ihr womöglich immer mal wieder mit seiner Zweisprachigkeit würde nützlich sein können. Er hatte eigentlich keine Lust gehabt, sich in seinem Alter wieder auf eine Schulbank zu setzen. Aber schließlich hatte er sich durchgerungen, weniger aus Überzeugung, sondern weil der Vorschlag von Carla kam. Sogar eine Prüfung bei der Handelskammer hatte er abgelegt. Und schließlich war der ganze Aufwand also nicht umsonst gewesen.
Langsam wurde es wirklich Zeit für ihn. Er trank noch einen Schluck von seinem Cappuccino, warf einen letzten Blick auf den See. Von dem Unwetter der Nacht war nichts mehr zu spüren; vollkommen still und spiegelglatt wie eine frisch präparierte Eisfläche lag er vor ihm, nur hier und da trieben ein paar Zweige und Äste auf dem Wasser, die der Sturm hineingeschwemmt hatte. Er würde also doch besser mit dem Auto fahren, denn mit dem schnellen Boot womöglich auf eines dieser schwimmenden Hindernisse zu treffen, die man manchmal erst im letzten Moment sah, war ihm ein zu großes Risiko.
Fünf Minuten später war er mit seinem Peugeot auf der Uferstraße unterwegs. Für seine Verhältnisse fuhr er zügig und war schnell in Pella, einem außer seiner sehr schönen Hafenpromenade eigentlich eher schmucklosen Ort, dem man vor ein paar Tagen das Weihnachtskleid angelegt hatte. Mit Sternen bestückte Girlanden bogen sich über der Straße, die durch die Ortsmitte und dann am See entlang weiter in den Süden führte, an den Häusern erklommen hier und da rot-weiß bemützte Weihnachtsmänner die Fassaden, saßen breitbeinig auf den Balkonen oder schoben einen Schlitten durch den Garten. Das ganze Spektakel würde sich erst bei Dunkelheit richtig entfalten, wenn die Lichteffekte zum Einsatz kamen, es überall vielfarbig blinkte und glitzerte. Allerdings war der Elan zum weihnachtlichen Schmücken in den letzten Jahren etwas erlahmt, die Dekoration bescheidener geworden. Die Dauerkrise, in der sich Italien seit einiger Zeit befand, ließ auch die italienische Weihnacht nicht unberührt.
Auf dem Parkplatz in Lagna standen ein paar Polizeifahrzeuge, und Simon erkannte Carlas Fiat. Er stellte sein Auto neben ihrem Wagen ab und nahm den asphaltierten Fußweg, der von dort hinunter zu dem großen Strand führte, den vor allem Einheimische gerne im Sommer besuchten. Bevor er den See erreichte, war der Weg mit Flatterband abgesperrt, und ein Carabiniere verwehrte ihm den Zutritt. »Sie können hier nicht durch«, sagte er in barschem Ton: »Sie sehen ja, dass hier abgesperrt ist.«
»Maresciallo Moretti erwartet mich«, erwiderte Simon betont höflich.
»Das kann ja jeder behaupten. Wer sind Sie denn? Können Sie sich ausweisen?«
»Rufen Sie doch einfach Maresciallo Moretti an, sie wird nicht erfreut sein, wenn Sie mich noch länger aufhalten.« Simons Ton war jetzt auch eine Spur weniger höflich, aber er zog doch gütlich seinen deutschen Personalausweis. Der durfte dienlicher sein als sein Presseausweis, den vorzuzeigen ihm den Zugang zum Strand wahrscheinlich erst recht verschlossen hätte.
»Strasser ist Ihr Name? Sie sind also kein Italiener, sondern Deutscher?«
»Ja, richtig.« Simon ließ es sich nicht anmerken, aber insgeheim freute er sich jedes Mal, wenn jemand ihn für einen Italiener hielt, auch wenn das in diesem Fall ein nicht besonders helle wirkender Carabiniere war. Zwar war Simons Mutter Italienerin, aber sie hatte mit ihren Söhnen Deutsch gesprochen und er hatte fast sein ganzes Leben in Frankfurt verbracht, seine zweite Muttersprache erst spät entdeckt, sprach sie noch immer nicht perfekt. Wenn der Polizist seinen deutschen Akzent nicht heraushörte, machte er jedoch offenbar Fortschritte. Dass er die Pässe beider Länder besaß, ging den Carabiniere, fand Simon, nichts an.
»Ho capito. Ich schicke den Signore zu Ihnen.« Der Polizist hatte nun doch zu seinem Diensthandy gegriffen und Carla angerufen. Dabei veränderte sich sein Ton, klang sehr respektvoll, um sich dann schließlich auf ein paar kurze sì, sì Maresciallo zu beschränken, und als das Gespräch mit Carla beendet war und er das Flatterband hob, schenkte er Simon sogar ein Lächeln, um ihn dann mit einer wahrscheinlich gewohnheitsmäßig herrischen Geste aufzufordern, weiter zum Fundort der Leiche zu gehen.
Der Strand war verwaist, auch der große Holzsteg, an dem die drei Verkehrsschiffe anlegten, die von Ostern bis in den Oktober hinein auf dem See unterwegs waren, war jetzt im Winter mit einer Kette versperrt. Rechts von Simon, unter dicht stehenden, schmal in den Himmel wachsenden Kiefern, lag eine Holzbude, an der im Sommer Eis und Getränke verkauft wurden. Simon kamen Bilder aus dem vergangenen August zurück. Es war ein Jahrhundertsommer gewesen, der Strand immer prallvoll, stets hatte ein Grillgeruch in der flirrenden Luft gehangen, unter einem hellblauen Himmel und einer gelben Sonne, die so heiß war, dass es einem schwindelig davon wurde. Kinder mit bunten Schwimmnudeln, die größer waren als sie selbst, schweratmende Französische Bulldoggen, die zurzeit in Mode waren, Mädchen in knapp sitzenden Jeansshorts und Jungs mit lautstarken CD-Playern – sie alle waren an diesen Strand geströmt, stahlen sich für ein paar Stunden aus der Hitze, schwammen, planschten und alberten im See herum. Jetzt waren die Fensterläden der Bude verrammelt und an ihrer Seite ein paar rote und blaue Klappstühle nachlässig zusammengestellt. An den zwei Kakibäumen daneben hingen überreife orangerote Früchte, die einfach nicht abfallen wollten, sich an die knorrigen Zweige klammerten wie alte Menschen an das Leben.
Ganz am Ende, wo der Strand in ein Wäldchen überging, sah Simon eine Gruppe Uniformierter, darunter eine Frau und einen Mann in weißen Schutzanzügen. Dort musste der Fundort der Leiche sein. Jetzt kam ihm schon Carla mit schnellen Schritten entgegen. Ein eleganter Anorak über der dunkelblauen Uniform, eine Sonnenbrille auf der Nase, die kurzen pechschwarzen Haare über der hohen Stirn etwas zerzaust.
Als sie näherkam, sah Simon, dass sie ihren linken Arm in einer Schlinge trug. »Buongiorno, Carla, was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?«, fragte er, als sie ihn erreichte, mit ihren grünen Augen anlächelte, ihm die rechte Hand entgegenstreckte und ihn warmherzig begrüßte.
»Sì, Simone. Leider ja. Ich bin beim Skilaufen gestürzt. Der Arm ist etwas angeknackst, aber es ist nicht weiter der Rede wert. Grazie, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich habe Sie ja wohl aus dem Bett geholt?«
»Nein, das heißt, ich wollte ohnehin gerade aufstehen, also machen Sie sich bitte keine Gedanken. Sie wissen ja, ich helfe gern.«
Carla lächelte ihn wieder an, jetzt etwas verschmitzt, fand Simon, oder täuschte er sich? Bestimmt hatte sie seine Alleingänge bei den letzten beiden Fällen nicht vergessen. »Die Staatsanwältin ist schon weg«, sagte sie, in einen professionellen Ton wechselnd. »Kommen Sie mit, die Tote wird gleich abgeholt. Sie können sie sich noch schnell ansehen und vor allem ihr Amulett. Es ist eine Madonnenmedaille.«
Wie immer kam Carla schnell zur Sache. Das gefiel Simon, wie er ihr überhaupt sehr zugetan war. Aber sie hielten professionellen Abstand, als wären sie tatsächlich Kollegen, siezten sich, allerdings mit einem vertrauten, fast intimen Unterton. Sie war auch die Einzige, der er es durchgehen ließ, sogar mit Wohlgefallen, dass sie ihn Simone nannte. Sein Taufname war Simon, aber seine Mutter hatte daraus den italienischen Männernamen Simone gemacht, eine zärtliche Geste, die ihm jedoch als heranwachsendem Jungen in Frankfurt stets peinlich gewesen war. Der deutsche Frauenname war ihm daher bis heute unangenehm. Außer eben, wenn er von Carla kam.
Es war eine Weile her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen