Irgendwann, in einem Frühling, überkam die drei Frauen eine verständliche Sehnsucht nach ihrem alten Zuhause, also riefen sie die neue Mieterin an, die gegen einen Rundgang durch das renovierte Haus nichts einzuwenden hatte – und weil auch ich mich gut an den ursprünglichen Zustand des Hauses erinnern konnte, begleitete ich sie.
Als wir später zusammen im früheren Büro meines Großvaters standen, das irgendwann zum Schlaf- und Sterbezimmer umfunktioniert worden war, überrollte meine Mutter die Mieterin gedankenlos mit den Worten: »Das ist jetzt das Schlafzimmer?! Hier sind unsere Eltern gestorben!«
Meine Mutter, bis heute diesen Umständen ignorierend gegenüberstehend, würde niemals die blauen Flecken vergessen, die ihre Schwestern und ich (aus Mangel an anderen sie zum Schweigen bringenden Möglichkeiten) danach auf ihrer Schulter hinterließen und die dadurch, dass meine Mutter von Natur aus wenige Thrombozyten besitzt, auch sofort anfingen, dunkelblau zu leuchten.
Dabei hatte meine Mutter recht, es ist doch beinahe unmöglich, in einer Großstadt in eine alte Wohnung oder ein altes Haus zu ziehen, in dem noch niemand ums Leben gekommen ist. So normal wie die lebendige Mieterin selbst (deren Blick ich niemals vergessen werde). Und Verbindungslinien ins Jenseits suchte man auch im Haus meiner Großeltern, so wie in dem Willemsens, vergeblich.
Wenig später – ich stand in Schmetterlingsblüten und wischte mir den Schweiß von der Stirn – sah ich einen kleinen Grabstein, von dem ich zuerst glaubte, es sei der des Schriftstellers und Kritikers Alfred Kerr, zumindest lag er in ähnlicher Position im Quadranten Z21, aber er war es nicht, es war der Grabstein einer Frau namens Waldtraut Pukall-White – »Schriftstellerin«.
Steine mit Berufsbezeichnungen waren nicht selten. Pukall-White lag dort alleine, wie Willemsen, und wann sie gestorben war, wollte man dem Besucher verheimlichen. Und später, als ich ihren Namen im Internet nachschlug, ergab er keinen einzigen Treffer, also war sie auch dort nicht mehr lebendig und für immer vergessen.
Ich ging weiter, immer weiter, durch Schatten und Licht und die Mischung aus Schatten und Licht. Aus dem Eingang einer von Bäumen überdachten Familiengruft schaute mir ein Feldhase entgegen. Ich kam endlich am Grab von Alfred Kerr vorbei, der gesagt hatte: »Man stirbt einen Tod und weiß nicht welchen, vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen.« Ich fragte mich, ob nicht das eigentlich der perfekte Spruch für einen Grabstein war.
Zum Ausruhen setzte ich mich an die Bushaltestelle »Nordteich«, auf meiner Liste hatten sich verschiedene prominente oder halbprominente, aber immer schreibende Hamburgerinnen und Hamburger versammelt: Hertha Borchert und ihr Sohn Wolfgang, die Schriftstellerin Marie Hirsch, der Schlagertexte schreibende Boxpromoter Walter Rothenburg und die Prinzessin Salme von Oman und Sansibar.
Gegenüber der Haltestelle bog ich nach der Hitzepause in einen von Tannennadeln bis an die Ränder gefüllten Weg ab, der neben einem düsteren Tümpel lag, wo ich den unter dem Namen »Seeteufel« bekannten Graf Luckner suchen wollte. Aber auch nach kleinlicher Untersuchung des Quadranten konnte ich ihn nicht finden. Wahrscheinlich war er dem Vergessen anheimgegeben worden, schließlich hatte er, neben seinen Seeabenteuern, die er unter den Titeln Seeteufel erobert Amerika oder Seeteufels Weltfahrt veröffentlichte, auch minderjährige Frauen missbraucht, darunter seine eigene Tochter.
Und obwohl die Sonne schien und ich von dem Dickicht, in dem der Seeteufel hätte liegen müssen, auf die große Norderstraße abgebogen war, bekam ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken an die Verbrechen, die alle anderthalb Millionen Toten auf diesem Friedhof zusammengerechnet ausgeführt haben mussten.
Beinahe ohne Absicht entdeckte ich nur kurze Zeit später den Grabstein Harry Rowohlts. Am oberen Ende eines Hangs lag ganz alleine ein dicker weißer Ballon, aus dem über Nacht die Luft entwichen war. Hinter dem Stein, außerhalb des Friedhofsgeländes, fuhr die U1 ihre Runden, ein unruhiges Plätzchen.
Auf dem Stein befanden sich als Inschrift nur Geburts- und Todesjahr und die in ihn hineingekratzte Unterschrift Rowohlts. Zuerst las ich Henry Burgum, dann Iturk Norsklav, bis ich mich anhand der Jahreszahlen daran erinnerte, dass Harry Rowohlt genau siebzig Jahre alt geworden und damit leider auch »viel zu früh« von uns gegangen war. Er selbst dachte allerdings: »Immerhin bin ich siebzig geworden, mehr kann man nicht verlangen.«
Die Unterschrift auf dem eigenen Grabstein machte mich erst ein wenig stutzig, dann beinahe rasend. Bedeutete das, dass man den eigenen Tod quasi als letzten zu unterzeichnenden Vertrag selbst unterschrieben hatte? Eher deutete mir viel darauf hin, dass es sich bei diesem Stein um einen letzten Akt perfider deutscher Kulturbürokratie handelte.
Als ich direkt vor dem Stein stand, sah ich rechts hinter ihm etwas liegen, es war eine kleine Plastikflasche »Johnny Walker Red Label«-Whiskey. Ich drehte sie mit meinem Fuß um, sie war leer. Ich schaute noch tiefer ins Gestrüpp hinter dem Grabstein, aber da lag nichts mehr, nur diese Whiskeyflasche.
Wieder, wie nach meinem Besuch des Grabs von Gernhardt, fragte ich später Hans Zippert nach ungewöhnlichen Erscheinungen während der Beerdigung Rowohlts. Er antwortete auf Anhieb in einer langen E-Mail:
»Rowohlts Beisetzung habe ich nicht erlebt, nur die öffentliche Trauerfeier in der Fabrik in Altona. Auf Wunsch der Witwe war Oliver Maria Schmitt als Moderator engagiert worden, aber ihm schlug von der ersten Sekunde eine vollkommen unverständliche Abneigung entgegen, so als habe er sich da reingedrängt und als Nichthamburger schon gar kein Recht, sich einzumischen. Ein sehr schwerer Abend für ihn. Für mich war es ein Triumph, weil ich mit Vacoped-Schuh, nach gerade überstandenem Achillessehnenriss, auf die Bühne kam und sagte, es sei jetzt lange genug über Harry geredet worden und viel zu wenig über mich. Das gefiel den Leuten und hatte etwas Marktwainhaftes, ich glaube, Harry hätte es auch gemocht.«
Ob es Rowohlt mit der Ewigen Wiederkehr und dem endlosen Gehen im Kreis hielt oder ob er annahm, dass man für immer verschwand, das konnte man wohl nicht so genau sagen. In einem Brief an Karl-Otto Saur jedenfalls befindet sich dann doch ein kleiner Hinweis: »Nichts geht verloren, fast jeder Kreis schließt sich.« Als Beweis nennt er die Sonne von Mexico:
»Sogar in der Sonne von Mexico links hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof haben wir gesoffen, einer Kneipe für den gehobenen Pennerbedarf, die eines Tages verschwunden war und, wie im ›Fliegenden Wirtshaus‹ von Chesterton, an anderer Stelle wieder auftauchte, im Sandweg, aufs Haar genauso, nur mit einem Hühnerdraht um den Bollerofen, weil es da in der kalten Jahreszeit immer zu häßlichen Verbrennungen gekommen war.«
Die Unsterblichkeit, wenn nicht des Körpers, dann doch wenigstens der Kneipe.
Ich drehte mich um, da hinten lag Hellmuth Karasek, oje. Eilig ging ich davon, die Whiskeyflasche ließ ich liegen.
Am Ende der Teichstraße lag zwischen Douglasien und Ahornbäumen eine Kapelle, dahinter irgendwo der Ohlsdorfer Wasserturm. Auch hier war der Friedhof ausladend, mit viel Platz zwischen den Gräbern. Vereinzelt schlenderten Herren mit grauen Bärten und Profikameras um den Hals durch die Reihen und blickten unschlüssig mal auf ein Eichhörnchen, dann auf eine dicke Hummel, die auf einer seltenen Pflanze saß, und schließlich fotografierten sie doch einen Grabstein aus der Zeit des Nationalsozialismus – die gekreuzten Schwerter vor dem Stahlhelm, das Eichenlaub auf deutschem Marmor.
Hinter dem an der Südallee stehenden Wasserturm ging ich nach links und folgte einem Schild zum »Garten der Frauen«. Auf dem Weg dorthin entdeckte ich das Grab von Fiete und Lissa Claussen, einem Paar, beide 1900 geboren, beide einhundert Jahre später, im Jahr 2000, gestorben. Kurz dachte ich, über etwas gestolpert zu sein, die Jahreszahlen auf dem Grabstein lösten bei mir ein Gefühl der Irritation aus, aber als ich mich am Boden umblickte, war da nichts.
Der Garten der Frauen ist ein über 1600 Quadratmeter großes und vom Rest des Friedhofs durch hüft- bis kopfhohe Hecken abgegrenztes Areal, auf dem an bekannte und wichtige Hamburger Frauen erinnert wird. Ich wurde schnell zu dem Kernstück geführt, der Erinnerungsspirale – einem leicht stilwidrig wirkenden Beton-Zengarten, in dem unterschiedlich geformte Steinklötze einen Kreis bilden. Dort wird an diejenigen Frauen erinnert (wenn sie nicht sogar anonym bestattet