Zumindest bin ich jetzt wieder auf der Straße und kann die Richtung halten. Hähä - jedenfalls habe ich dem provisorischen Europa ein kleines, weißes Schnippchen geschlagen, indem ich über die weiße Linie gefahren bin, um mir den Weg etwas zu enteuropäisieren. Pas mal - oh, in Sicht die gute alte Rue Nationale - ohh man, geschafft, jetzt aber los, noch zehn Minuten. Jetzt nicht überreagieren, vorsichtig, ich höre das dumpfe Geräusch des Vorderrades an der Bordsteinkante. Langsam, bloß nicht rasen, runter mit der Geschwindigkeit. Alles bleibt ruhig. Ich kann also noch etwas beschleunigen. Gut. Alles bleibt ruhig. Ich verharre so noch etwas, reduziere meine Geschwindigkeit weiter, um sicherzugehen, dass auch wirklich nichts passiert ist. Rien du tout. Mais oui, q’est qui se passe? Wieder diese endlos erscheinenden Kilometer. Jedenfalls sind hier kaum Brummis unterwegs, über die ich mich ärgern könnte. Keinem kann ich jetzt die Schuld geben, an irgendetwas schuldig zu sein. Ojemine. Trotz allem – ein Blick in die Gegend, ein Blick auf den Tacho, ein Blick auf die Uhr. Alles noch im regelbaren Bereich, denke ich. Denn gesehen habe ich das Hotel ja schon. Der Blick in die Gegend will mir nicht recht gefallen, ich sehe nicht, was ich da sehe. Häuser, Wiesen, Felder, Wege, Bäume. Alles liegt in der untergehenden Abendsonne. Es schleicht sich eine heimliche, leise Angst und eine heimliche, leise Trauer in meine Gedanken. Was geschieht denn nur da draußen? Wer macht da so viel Tod?
Medeas Zorn ist vergleichsweise milde ausgefallen gegen diese Rache. Die junge und schöne Kreusa, Jasons neue Geliebte, verbrennt in ihrem neuen Hochzeitskleid, ein Geschenk Medeas. Auf ihrer Flucht zerstückelt sie ihre Kinder und verstreut die einzelnen Teile in der Landschaft, damit ihr Jason vor lauter Entsetzten nicht so schnell folgen kann.
Wer erlaubt sich das, über so etwas zu entscheiden? Wer ist der Totmacher? - Das darf nicht sein. Peer Gynt schießt mir in den Kopf - Quatsch. Vergiss es! Ich muss mich auf die Straße konzentrieren. Gedanken jagen durch den Kopf. Peer hatte ganz andere Probleme. Auf einer Planke musste er sich mit seinem Koch auseinandersetzten, der hat Kinder, Peer hat keine. Der hat sich ganz klar für sich entschieden. Peer aber ist im Kampf mit einem Koch auf einer Planke, um sein eigenes Leben zu retten. World Trade Center.
Mein Opfer wäre doppelt groß
Peer Gynt
Peer: Mein Opfer wäre doppelt groß, denn ich bin kinderlos.
Koch: Ich bin noch jung, sie lebten, Herr.
Peer: Spute dich; sink - du bist so schwer.
Koch: So weichen sie! Das Gott erbarm. Um sie trägt keine Seele Harm - ich sinke!
Peer: Noch halt ich dich am Schopf, dein Vaterunser sprich.
Koch: Ich komm nicht drauf - mir schwindelt schon!
Peer: Das Wichtigste ganz schnell, mein Sohn.
Koch: Brot gib uns heut.
Peer: Rasch weiter, Koch.
Koch: Brot gib uns heut.
Peer: Dasselbe Lied! Du warst ein Koch einst, wie man sieht.
Koch: Brot gib uns heute.
Peer: Amen, Knecht! Du bliebst dir treu: so ist es recht. Wer lebt, darf hoffen. Nun, es sei - Tod.
Peer Gynt
Henrik Ibsen
Oh, gleich, jetzt ist die richtige Ausfahrt in Sicht, gleich bin ich da, nicht mehr lange. Eine ungewisse, beklemmende Freude kommt auf. Jetzt noch die Schleife und unter der Brücke durch, jetzt kann mich kein Brummi mehr täuschen, denn die Einfahrt ist deutlich zu sehen, auch der grüne, Neon leuchtende Charollais Bulle ist nicht mehr zu übersehen. Glutrot ist die Sonne jetzt. Der Himmel leuchtet tiefrot und orange und rot und rot und rot, als wäre im Hintergrund eine riesige Feuerwand, so als würde eine ganze Stadt brennen. Ja, es ist schon so, ein wenig. Es scheint so, als ob hinter der Dorfkulisse von Paray-le-Monial die ganze Landschaft in Flammen steht. Feuerrot und tot und rot und Tod. Gedanken jagen durch den Kopf - verbrannte Erde - Krieg - viel Elend, viel Leid und ein ängstliches Gefühl, dem nicht entkommen zu können, unentrinnbar. Kommt der Tod. Eigentlich ist es ein wunderschöner Anblick, es ist ein gewaltiges, schönes Kunstwerk. Es scheint so, als betrifft es mich selbst. Ich fühle mich ziemlich beklommen und etwas traurig, der Himmel glutrot, rot, rot, rot, glutrot. Götterdämmerung. So muss es wohl gewesen sein, als die Götter im Zwist und in wilder Raserei das ganze Himmelszelt entzündeten. Die ganze Erde steht in Flammen. Menschen kommen um in den Flammen, im grauenhaften, abersagenhaften Inferno. Kein Mensch und kein Tier, nichts bleibt. Aber um welchen Gott geht es eigentlich?
Jetzt befinde ich mich bereits auf der Auffahrt meines Hotels. Deutlich spüre ich, dass es sehr, sehr knapp wird, meine Anspannung ist bis in die letzte Faser meines Körpers zu spüren. Die Gedanken türmen sich turmhoch auf, Gebäude stürzen ein. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Könnte ich jetzt auf die Knie sinken und beten, ich würde es tun, aber ich sitze in meinem kleinen, großräumigen, europäischen Auto und kann nicht auf die Knie sinken.
Gloria in excelsis Deo
et in terra pax hominibus bonae volutatis.
Qui tollis peccata mundi, miserere nobes.
Qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram.
Ich bitte dich von ganzem Herzen, mein Gott. Gnade. Mach das andauernde Tod-Bringen zu Ende. Lass es aufhören.
Niobe umgeben von in Stein verwandelten Bewohnern der Stadt Theben. Vor ihr die vierzehn blutbefleckten getöteten Kinder. Enorme Stille. Lautloser Gesang Niobes
Mut. Wer leben blieb der hat noch seine Pflicht. Die Erde Steingehärtet verweigert die zu schlucken. Mut. Der Mensch bestimmt die Ordnung seines Tags. Welche Ordnung in welchem Tag der schlaflosen Nacht. Vermischt sich alles in einem Neubeginn von Nichts?
Tag 1. Nach dem Massaker. Mein Schmerz ein Schrei ohne Echo. Tag 2. allein ohne Helfer kratzen die Hände vergebens. Steinerde. Es liegen die Toten ohne Bestattung. Tag 3. Kommen die Vögel und pflücken das Fleisch von den Körpern. Mein Kampf beginnt um die Erhaltung der Toten. Tag 4. Vergessen die Tage zu zählen. Die Arme zu heben. Wo. Die Götter überrascht von dieser Zukunft beginnen zu schweigen. Niobe im Trümmerfeld ihrer sie umgebenden blutbefleckten getöteten Kinder. Der Mensch (sich selbst) ein Versuchsmaterial. Die Bewohner der Stadt vom langem zuschaun des guillotinierens zu Stein erstarrt. Niobe ein Ort voller Zuversicht. Wo das Entsetzen allein umgeht ohne das Leid teilen zu können. Niemandem zugehörig. Weder den Toten noch den Versteinerten Zuschauern. Ein langes Warten auf Götter zwischen den Toten Fronten. Allmählich verwesen die Leichen. Die Bewohner zerfallen zu Sand. Niobe allem angehörig ist endlich. In der Heiterkeit der Jahrtausende. Ihr Lachen ein Blutsturz.
Niobe am Sipylos, Jochen Berg
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Mit freundlicher Genehmigung
Paray-le-Monial, Hotel
Hotel, Frankreich