Überall ist Asgard. Ulf Angerer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulf Angerer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Сказки
Год издания: 0
isbn: 9783948863029
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in den Zeremonien unseres Volkes, denn sie erinnert an die ständige Erneuerung, an den Neuanfang, der jedem Ende innewohnt. Wir haben unzählige Geschichten, in denen die Sieben eine Rolle spielt – sieben Lämmer, sieben Vögel, sieben Recken oder Jäger. Immer sind sechs von ihnen in unrettbare Situationen geraten und der siebte, meist jüngste oder kleinste, rettet seine Gefährten aus der Not.

      Während der achten Trommelstrophe führt eine unbefleckte Maid einen kräftigen Stier in den Ring. Sie trägt ein Gewand aus Blumen, und Blumen umkränzen ihr langes blondes Haar. Der Stier ist weiß wie Schnee. Weiße Stiere leben nur für diesen einen Tag. Immer, wenn eines unserer braunschwarzen Rinder ein weißes Bullenkalb gebiert, wissen wir, dass die Götter uns ihre Huld geschenkt haben und dass es unsere Aufgabe ist, dieses eine himmlische Wesen zwölf Jahre zu hüten, um es dann den Göttern zurückzugeben. Wir hegen und pflegen es stellvertretend für all die anderen Tiere, die die Götter uns schenken. Jedes Jahr wird mindestens ein weißes Kalb geboren. Sind es mehr, hüten wir sie alle und opfern den Göttern das kräftigste von ihnen.

      Golon und der Stier stehen sich nun Auge in Auge gegenüber. In der neunten Runde schlagen die Trommeln zwölf Mal. Der gleichmäßige Ton und das reine Weiß alles Sichtbaren beruhigen das Tier. Nicht den geringsten Anflug von Angst darf es verspüren.

      In den zehnten Zyklus zu weiteren zwölf Trommelschlägen stimmen die Kinder ein:

       HOW – HOW – HOW…

      Ihre hohen Stimmen ergänzen und bereichern den tiefen Schall der Trommelschläge:

       HOW – HOW – HOW…

      Die elfte Strophe mit zwölf Schlägen – nun singen Kinder und Frauen:

       HOW – HOW – HOW…

      Der Gesang erreicht seinen Höhepunkt in dem Moment, in dem die Trommeln zum letzten, zum zwölften Mal, erklingen. Der Jahreskreis schließt sich in ihrem markerschütternden Hall. Zwölf Schläge, zu denen nun auch die tiefen Bässe aller Männer erklingen:

       HOW – HOW – HOW…

      Der gesamte Stamm ist nun gebunden in diesen einen heiligen Gesang. Stimmen, Atem und Herzschläge finden zusammen und bilden ein einziges mächtiges Wesen. Der stärkste unserer Recken ist, von dem Stier unbemerkt, neben das Tier getreten. Weit erhebt er sein scharfes Schwert, während die letzten zwölf Trommelschläge über dem Ring schweben. Beim letzten Schlag, beim letzten HOW saust das Schwert auf den Hals des weißen Stiers nieder. In einem einzigen Augenblick fällt der riesige, hornbewehrte Schädel zu Boden.

      Der kopflose Stier steht noch immer vor Golon, der von einer tiefroten Fontaine getroffen wird. Das geheiligte Blut des Tiers fängt sich in einer goldenen Schüssel, die auf dem Boden vor Golon steht. Er hebt die Schale auf und trägt sie durch das Tor des Sonnenaufgangs. Alle Stammesmitglieder verlassen den Hochweg und reihen sich hinter Golon – die Hälfte der Männer zuerst, nach ihnen die erste Hälfte der Frauen, dann die Kinder. Ihnen folgt die zweite Hälfte der Frauen und am Ende des Zuges die zweite Hälfte der Männer. So ziehen wir, nach außen stark, für die Zukunft in der Mitte, die es zu schützen gilt. So zieht der Stamm zu den Feldern am Rand der Siedlungslichtung. Wir erreichen das Feld und stellen uns reihum auf. Wir beginnen wieder zu singen:

      HOWHOWHOW…

      Unter unserem Gesang tränkt Golon den Boden mit heiligem Blut.

      Das Opferritual ist zu Ende.

      Es ist Mittag. Die Sonne hat den allerhöchsten Stand für dieses Jahr erreicht.

      Das Opferfest kann beginnen.

      Wie in den Tausenden und Abertausenden Sonnenumläufen zuvor, begehen wir das große Fest des ewigen Wandels. Der längste Tag des Jahres taucht in die kürzeste Nacht. Noch immer opfern wir den Göttern und danken für die Gaben der vergangenen Monde. Wir bitten um eine reiche Ernte und essen und trinken zügellos.

      ~

      So ist es damals gewesen, und so war es auch in all den Jahren davor. Viele Sonnenumläufe sind seither vergangen – und doch hat sich während der letzten etwas verändert. Die Feste, die wir für die Götter feiern, haben langsam ihren tieferen Sinn verloren. Heimlich, wie eine giftige Schlange, kroch eine formlose Kälte in unsere Dörfer. Unmerklich tröpfelte sie ihr Gift in die Herzen der Menschen – Midgard begann, die alten Götter zu vergessen. Kaum jemand an den großen Feuern gedachte noch ihrer in der Tiefe seines Herzens. Die Köpfe waren voll – doch die Herzen waren leer. Wo sich alles dem Verstand erschließt, verliert das Leben seinen Zauber. Alles scheint erklärbar. Nichts ist noch rätselhaft – nichts ist magisch. Doch will mir scheinen, gerade der Glaube an die Allmacht des Verstandes ist der Trugschluss, ist ein Selbstbetrug, und führt in die Verzweiflung durch den Irrtum, das eigene Schicksal lenken zu können.

      Die Erkenntnis, dass wir den großen Belangen des Lebens gegenüber vollkommen machtlos sind, gebiert den Glauben an eine höhere Macht – egal, wie wir sie nennen: Götter, Schicksal oder Zufall. So wundert es nicht, dass tief in unseren Seelen die Suche nach dem großen Zauber nie endet.

      ~

      So erging es mir, als ich mit dem Apfel in die Siedlung kam. In der Öffentlichkeit erklärten die Ältesten das Vorhandensein dieser reifen Frucht mit allerlei klugen Worten. Sie sprachen von der Kühle des vergangenen Winters, von der Lagerung im Sumpf und vom zufälligen Zusammentreffen günstiger Umstände. Hinter verschlossenen Türen jedoch murmelten sie die alten Texte, baten Odin und Freyja um Rat. Das Volk Midgards sah sich bestätigt im alten Glauben. Jene, welche die Götter zur Sonnenwende am lautesten verhöhnt hatten, lagen nun als erste auf den Knien. Nur zu gern ließen sie die alten Riten auferstehen – sprachen vom Zeichen der Götter. Und ich war der Überbringer, der Wanderer zwischen den Welten.

      Diese Entwicklung ängstigte mich. Zu tief wäre der Fall nach schnellem Aufstieg. Doch all meine Erklärungsversuche verebbten erfolglos. So fügte ich mich in mein Schicksal, und auch, wenn ich im Herzen um meine Einfachheit wusste, gefiel mir der Gedanke, von den anderen Welten berichten zu dürfen.

      ~

      Der Abend war still, an dem ein Mann namens Rieger nach mir rufen ließ. Ich kannte ihn leidlich. Er war lange Zeit berühmt gewesen für seine Weisheit und hatte den Ältesten als Ratgeber gedient. Ich wusste nicht mehr, wann er aus dem Bild der Siedlung verschwunden war. Schweigend hatte er sich in sein Langhaus zurückgezogen. Schweigend erwartete er, auf seinem Lager aus Stroh, das Ende. Nun schien es nah, und er wünschte ein letztes erleichterndes Gespräch.

      „Lange Jahre habe ich gekämpft. Ich war Sieger in unzähligen Schlachten, und nicht ein einziges Mal drehte ich dem Feind den Rücken zu – außer, um ihm meinen entblößten Hintern zu zeigen.“ Rieger lachte. „Doch Odin war das wohl nicht genug. Er verweigerte mir den Ehrentot auf dem Schlachtfeld. Er lässt mich nicht nach Walhalla. All meine Gefährten sitzen nun an den langen Tischen. Sie fressen und saufen und genießen die Weiber. Was mir bleibt, ist der schmähliche Tod auf dem Lager. Was mir bleibt, ist der Strohtod!“ Er sah mich an. „Du aber, Ulan, warst bei Iduna. Hast mit der Göttin gesprochen. Sage mir nun, was wird Hel mit mir machen? Ist sie so grausam und unnachgiebig, wie man sagt?“

      „Ich weiß es nicht, Rieger. Ich bin ein einfacher Mann“, sagte ich leise. „Auch, wie ich zu Iduna gelangte, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich ihr wirklich begegnet bin.“

      Rieger hob die Hand in meine Richtung. „Ich bin alt, und viele Jahre lobte man mich für meine Weisheit. Ich weiß nicht, ob ich weise bin, aber eines weiß ich ganz gewiss: ob ein Mann ein Wanderer ist oder nicht, darauf hat er keinen Einfluss. Die Götter berufen dich, und es ist ihnen gleich, ob du damit einverstanden bist oder nicht. Dir widerfuhr diese Ehre, als dich Iduna rief. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, du hättest sie gefunden, wenn sie es nicht gewollt hätte!“

      So hatte ich die Sache noch nicht betrachtet. Langsam erkannte ich die Last meines Weges. „Aber, wie kann ich dir helfen?“

      „Nimm mir die Angst vor Hel … und mach schnell! Meine Zeit rinnt