Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yusuf Kuhn
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783748292555
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der Koran kalām Allāh (Wort Allahs) ist. Wenn wir auf eine āya stoßen, die wir nicht verstehen, sagt uns ʿaql unter der Voraussetzung, dass wir wissen, dass der Koran kalām Allāh ist: das genügt, wir nehmen es an. Unser ʿaql sollte uns dies sagen.

      Dafür gibt Ibn Taymiyya ein schönes Beispiel:

      Stell dir vor, ein Fremder kommt in eine Stadt und hat eine Frage zum fiqh (Recht/Moral). Er möchte daher einen Mufti fragen. Da findet er jemanden in der Moschee und fragt ihn, wo der Mufti ist. Er antwortet: »Ich bringe dich zu unserem großen Mufti, den besten Mufti der Stadt.« Er nimmt ihn bei der Hand und bringt ihn zum Mufti. Der Fremde stellt dem Mufti eine Frage. Der Mufti erteilt seine fatwā (Fatwa). Auf dem Rückweg sagt sein Führer: »Nein, nein, weißt du, der Mufti liegt falsch. Tut mir leid, ich kann dem Mufti nicht zustimmen. Er hat Unrecht.« Der Fremde sagt: »Aber du hast mir doch gesagt, dass er der Mufti ist.« »Ja, aber das macht keinen Sinn, du musst meiner Meinung folgen.« Der Mann sagt – und nun spricht Ibn Taymiyya: »Nein, die Tatsache, dass du bezeugt hast, dass er der Mufti ist und der beste Mufti der Stadt, bedeutet, dass dies die Person ist, deren fatwā ich annehmen muss. Und die Tatsache, dass du mit einer fatwā von ihm nicht einverstanden bist, macht deine frühere Bezeugung, dass er der große Mufti der Stadt ist, nicht zunichte.«

      Und eben dies kennzeichnet die Rolle von ʿaql und naql für Ibn Taymiyya: ʿaql sagt, dass naql kalām Allāh ist. Wenn nun eine bestimmte āya nicht verstanden wird, so macht es nicht die Bezeugung zunichte, dass naql kalām Allāh ist. Das ist ein interessanter Punkt.

       1.3.2.2.7 Konflikte zwischen ʿaql und naql sind nie rein rational

      Ibn Taymiyya vertritt auch folgende Auffassung:

      Wenn es Konflikte zwischen ʿaql und naql gibt, so treten diese Konflikte immer in Bereichen auf, die nicht rein intellektuell (oder auf Vernunft basierend) sind. Nie tritt ein Konflikt in einem Bereich auf, der rein mathematisch oder wissenschaftlich ist, sondern in der Ethik, bei Gottes Attributen, in philosophischen Fragen.

      Die klarste ʿaqlī-Wissenschaft (Vernunftwissenschaft) ist Mathematik. Wenn Mathematik und Wissenschaft nie im Widerspruch zum Koran stehen können, erwartest du dann, dass es einen Konflikt auf dem Gebiet der Ethik oder anderen feineren (weniger harten) Bereichen geben soll? Das macht keinen Sinn.

       1.3.2.2.8 Das Schleusentor-Argument

      Ibn Taymiyya bringt noch ein weiteres Argument:

      Wer immer diese Tür für eine Sache, die potentiell problematisch für etwas ʿaqlī (Vernunftbasiertes) ist, öffnet, öffnet die Tür für jede Sache, die problematisch für etwas ʿaqlī ist.

      Gemeint ist damit folgendes:

      Die Aschʿariten finden Gottes Attribute im Koran problematisch. Deshalb reinterpretieren sie alle sifāt (Attribute), wie es ihnen nötig erscheint. Was hält dann andere davon ab, eine andere Sache problematisch zu finden, die heute nicht problematisch ist, wenn ʿaql etwas Neues findet oder entdeckt?

      Denn ʿaql ändert sich ständig, erweitert stets seine Horizonte. Wenn man also diese Tür öffnet, wird man sie nicht mehr schließen können. Das ist das Schleusentor-Argument.

       1.3.2.2.9 Doppelstandard bei der Anwendung des qānūn

      Ibn Taymiyya legt dann dar – und das ist ein sehr tiefgründiger Punkt:

      Es ist widersprüchlich, diese Regel in einem Bereich zu verwenden, aber nicht in einem anderem. Die Aschʿariten (ar-Rāzī und al-Ghazālī) wenden diese Regel auf die Attribute Allahs an, aber wenn die falāsifa (Philosophen) dies hinsichtlich dschanna (Paradies) und nār (Feuer, Hölle) tun, sagen sie, letztere seien kāfir (Nicht-Muslime).

      So vertritt beispielsweise al-Ghazālī im Tahāfut folgende Auffassung:

      Da Ibn Sīnā dschanna und nār sowie die leibliche Auferstehung verwirft und taʾwīl darauf anwendet, ist er kein Muslim. Ibn Taymiyya stimmt darin al-Ghazālī zu.

      Ibn Taymiyya sagt dazu:

      Ihr (Aschʿariten) tut in einem bestimmten Bereich genau das, was sie (falāsifa) in einem anderen tun, nämlich aufgrund einer intellektuellen (vernunftbasierten) Prämisse Hunderte von āyāt und ahādīth zu reinterpretieren. Das ist ein Doppelstandard: Das Ergebnis ist nur davon abhängig, um welches Thema es sich handelt. Bei qiyāma (Auferstehung) z.B. – da darüber allgemeiner Konsens herrscht – wird dies nicht angewendet, bei anderen Themen aber schon – wo doch die āyāt zu den Attributen Allahs zahlreicher sind als zu dschanna und nār. Ihr (Aschʿariten) macht das mit mehr āyāt als sie (falāsifa) und glaubt, das sei erlaubt. Hier liegt offensichtlich ein Problem vor.

       1.3.2.2.10 Welche Vernunft? Wessen Vernunft?

      Ibn Taymiyya stellt folgende Frage:

      Auf welchen ʿaql bezieht ihr euch? Auf den ʿaql welcher Gruppe?

      Daraufhin macht er eine sarkastische Bemerkung: Wenn man die Muʿtaziliten und Aschʿariten betrachtet, so haben sie dank Allah so viel ʿaql – und doch stimmen sie miteinander nicht überein.

      Ibn Taymiyya bringt eine Liste von ca. 50 Gelehrten und zeigt, dass sie sich alle gegenseitig widerlegt haben – aufgrund von ʿaqlī-Beweisen (vernunftbasierten Beweisen).

      Welchen ʿaql unter diesen ganzen ʿuqūl (Plural von ʿaql) soll ich also wählen, um Koran und Sunna zu beurteilen?

      Er macht sie zum Gespött: Ihr haltet euch für Leute des Intellekts (der Vernunft). Wenn ʿaql eine einheitliche Sache wäre, müsste man doch erwarten, dass alle diese vernünftigen Gelehrten sich auf etwas einigen könnten. Aber in Wirklichkeit unterscheidet sich jede Gruppe von ihnen von jeder anderen, so dass alle unterschiedliche Auffassungen davon haben, was rational oder intellektuell möglich ist. Und innerhalb jeder Gruppe gibt es wieder ein ganzes Spektrum. Und es gibt nichts, was diese Gruppen oder Gelehrten intellektuell (oder vernünftig) nennen und sie verbindet.

      So wird das Intellektuelle (oder Vernünftige) das, was du für die Wahrheit hältst. Du nennst es einfach ʿaqlī. Denn es gibt keine übereinstimmend anerkannte Art von ʿaql, auf die sich alle einigen könnten.

       1.3.2.2.11 Der bereuende Philosoph oder mutakallim

      Ein Motiv, das bei Ibn Taymiyya besonders beliebt ist und in vielen Büchern wiederkehrt, ist das des bereuenden Philosophen oder mutakallim.

      Die Mehrheit der Philosophen und mutakillimūn, die sich durch Aufrichtigkeit ausgezeichnet haben, sind gegen Ende ihres Lebens von Reue befallen worden. Sie haben schließlich erkannt, dass sie nicht richtig vorgegangen waren, denn sie haben etwas getan, was sogar mehr Zweifel und Verwirrung hervorgerufen hat. Ganz besonders gerne zitierte er al-Aschʿarī selbst, der mehrere Phasen durchgemacht und gegen Ende seines Lebens al-Ibāna geschrieben hat, sowie al-Ghazālī, der im Sterben liegend den Sahīh al-Bukhārī (Hadithsammlung) in Händen gehalten und gesagt hat: »Das ist meine ʿaqīda hier in diesem Buch Sahīh al-Bukhārī.« Und Gleiches gilt für al-Dschuwaynī, der seine Studenten unterwies: »Geht nicht in diesen philosophischen kalām, in den ich gegangen bin, denn das hat mich zerstört.«

      ar-Rāzī hat am Ende seines Lebens eine wasiyya (Testament) geschrieben, die erhalten ist. Sie hat drei Seiten. Man findet sie in den Biographien von ar-Rāzī. An ihr Ende setzte er ein Gedicht, das besagt:

      Das Endergebnis des ʿilm al-kalām (Wissenschaft des kalām), dieses intellektuelle … [unverständlich] hat mich behindert. Alles, was es uns gebracht hat, ist, dass der eine dies sagt und der andere jenes. … Ich habe den Koran gelesen, und nichts war klar in der Theologie außer dem Koran. Lies Allahs Attribute, wenn Er behauptet, so und so zu sein (z.B. istawā). Und lies die Negation: »Nichts ist Ihm gleich« (Koran