Genau hier zeigt sich ein Problem: Ein Kind wird nicht mehr hier und jetzt begleitet, sondern auf eine imaginäre Zukunft hin erzogen, von der man nichts weiß, außer, dass sie eintreten wird. Aber Kinder leisten dann WIDERSTAND, wenn die Vorstellungen der Eltern nicht zu ihnen passen. Manche tun dies still, andere laut, manche treten ihren Eltern vors Schienbein, andere werden weinerlich, regredieren zum Kleinkind und einige machen eine solch seltsam beschleunigte Erziehung einfach nicht mit: Sie stellen sich auf die Hinterbeine. Entwicklungsstillstand und -verzögerungen sind die Folgen und keine Macht der Welt bringt diese Kinder in Bewegung.
MITFÜHLEN STATT MITLEIDEN
In der Erziehung kann man nicht alles planen. Vieles kommt eben anders, als sich Vater und Mutter das denken. Ein Kind kommt nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Es bringt neurologische und genetische Strukturen, aber eben auch Defizite mit auf die Welt, die es zu respektieren gilt. Man muss mit ihnen leben, um dann das Buch des Lebens in entsprechende Kapitel aufzugliedern. Für manche Probleme, die sich aus einer individuellen Situation ergeben, gibt es keine schnellen Lösungen oder Heilung.
Und wenn Eltern Hinweise auf mögliche Entwicklungsstörungen besorgt studieren und prompt das eine oder andere Kriterium bei ihrem Kind beobachten, schon wird aus Johannes ein entwicklungs-, aus Felix ein lerngestörtes, aus Nina ein hochbegabtes und aus Katinka ein ewig schüchternes Kind.
Wer nur von Schwächen redet, macht seine Tochter oder seinen Sohn unsicher und schwach und erstarrt in einer Mitleidshaltung. Viel wichtiger und zielführender hingegen ist es, in leidvollen Situationen dem Kind STÄRKENDES Mitgefühl zu geben.
FALLGESCHICHTE
Die Eltern des dreijährigen Jonas, eines Adoptivkinds aus Bangladesch, stellten »ihr Sorgenkind« einem Erziehungsberater vor. Jonas sei, wie sie meinten, sprachlich wie emotional stark entwicklungsverzögert. Er könne nur Ein-Wort-Sätze formulieren und »fremdele« extrem stark. Darauf meinte der Berater, die Eltern hätten offenbar ein starkes Kind, das gut für sich zu sorgen wisse: »Jonas hat so laut gerufen, als er ein halbes Jahr war, dass Sie ihn in Europa gehört und zu sich genommen haben.« Vater und Mutter lächelten zunächst schüchtern, dann kam ein vorsichtiges: »Stimmt eigentlich auch!« Von diesem Punkt an ließen sie Jonas mehr Zeit, sich zu entwickeln. Sie begleiteten ihn gelassener, verglichen ihn nicht ständig mit anderen Kindern und kümmerten sich weniger darum, was andere wohl dachten, wenn sie Jonas erlebten. »Geholfen hat uns«, so die Mutter später, »zum einen die beruhigende Beratung, aber gleichzeitig auch der Kinderarzt, der die Probleme nicht bagatellisierte, die wir mit Jonas und Jonas mit uns hatte. Er nahm uns ernst und wir fühlten uns ernst genommen!«
Genau dies ist eine der Absichten dieses Buches: den Blick zu richten auf Kinder, die auf ihre eigene Art und Weise RÄUME erleben und erfahren dürfen, die entweder mehr ZEIT brauchen als andere Gleichaltrige oder die einem Hurrikan gleich Entwicklungsschritte vollziehen und jedes von ihnen sein eigenes KÖRPERGEFÜHL entwickelt. Und die genau spüren, ob sie nach einem vermeintlichen Erziehungsideal geformt werden sollen oder so angenommen werden, wie sie sind.
Kinder brauchen weitere (aber strukturierte) Räume, mehr Zeit mit sich zuverlässig wiederholenden Ereignissen, sie brauchen körperliche Lernerfahrungen und RESPEKT für ihre empfindlich reagierende Seele – auch wenn sich diese hin und wieder hinter Wolken aus Wut und Zorn verbirgt. Ein Junge oder ein Mädchen mit all seinen Gefühlen erfordert KRAFT und Energie seiner Mutter und seines Vaters. Mit Überbehütung, einer vernachlässigenden Laisser-faire-Erziehung, Selbstmitleid oder einem hilflos-entmutigten Rückzug aus der Kinderbetreuung ist ihm nicht geholfen.
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