Elbseitig gab es nur ein Tor. Die beiden Schanzen auf der anderen Uferseite, die Krockow’sche und die Zollschanze, waren bereits seit längerem unter der Kontrolle der katholischen Armee, und die schmalen Brücken, an denen sich hinter den Schanzen das Holzmarschtor, die Zugbrücke und das eigentliche Elbestadttor befanden, waren teilweise zerstört worden. Bewacht wurden sie nur, damit niemand auf diesem Weg aus der Stadt fliehen konnte.
Johannes hatte beschlossen, dass sie beide durch das Krockentor in die Stadt einfallen wollten, welches Tilly, zusammen mit der Hohen Pforte, seiner Truppe zugeteilt hatte. Pappenheims Soldaten hingegen würden hauptsächlich durch die Lukasklause hineinstürmen. »Beim Krockentor, da sind gleich zwei Kirchen, St. Augustin und St. Jakob, und jede Menge reiche Bürgerhäuser mit fetten Pfeffersäcken gleich drum herum«, frohlockte er vorab.
Die Stadttore waren bald gestürmt und die reiche Hansestadt lag vor ihnen wie auf dem Silbertablett. Als Magdalena dann mit den johlenden Soldaten, etwa sechsundzwanzigtausend an der Zahl, in die gefallene Schönheit eindrang, spürte sie gleich, dass heute irgendetwas anders war. Des Öfteren hatten sich die Truppen bereits über Ortschaften und Städte hergemacht, die es gewagt hatten, dem Kaiser und der Katholischen Liga zu trotzen. Aber noch nie war die Stimmung so aufgeladen gewesen wie heute. Gewalt, Zorn, Übermut, Siegestaumel und Lüsternheit lagen in der Luft, dies allerdings vielfach verstärkt durch Unmengen an Wein und Bier, die Tilly seinen Truppen für die Siegesfeier bereitgestellt hatte. Magdalena hatte ein äußerst ungutes Gefühl, eine dumpfe Vorahnung, dass heute noch mehr Gräueltaten passieren würden als sonst. Sie wollte nur schnell hinein in die Stadt, zusammenraffen, was halbwegs von Wert erschien, und wieder hinaus. Natürlich wusste sie, dass es immer Landsknechte gab, die Frauen schändeten und Bürger quälten, um deren Geldverstecke zu erfahren. Aber meist in einem Rahmen, bei dem die Feldherren beide Augen zudrückten. Heute, das spürte sie bereits am frühen Morgen, würde alles anders ablaufen.
So ließ sie sich gleich zu Beginn nach hinten fallen, während ihr Mann Johannes an vorderster Front losstürmte. Er, der mittlerweile einer der dienstältesten der gemeinen Soldaten war, hatte so viel erlebt, dass ihn andere Männer seines Zuges bereits für ›gefroren‹, also für unverwundbar, hielten. Tatsächlich trug Johannes in seinen Taschen diverse Utensilien, die ihm als Talisman dienten und ihm diese Unversehrtheit garantieren sollten. Ein Stück Bocksbart, ein Wolfsauge und eine Gemskugel sollten dazu auf jeden Fall ausreichen.
Magdalena wartete am Stadttor, dessen in die Stadtmauer integrierter Geschützturm wie auch das vorgesetzte Hornwerk gleich zu Beginn des Sturms aufgegeben worden waren, um in dem entstandenen Gedränge weiterzukommen. Sie vernahm bereits die ersten Schreckensschreie der einsetzenden fürchterlichen Gemetzel und sah, wie die ersten blutigen Leiber über die Stadtmauer hinunter in den Kanal stürzten. Als sie nach dreißig endlos scheinenden Minuten innerhalb der Stadtmauern angekommen war, glaubte sie sich in der Hölle wieder. Blut floss in Bächen die Straßen hinunter und färbte das Pflaster tiefrot.
Anfangs trafen die Eroberer noch auf erbitterten Widerstand der Bürger Magdeburgs. Siedendes Wasser ergoss sich aus den Fenstern in die engen Gassen, auf die Köpfe der vor Schmerz aufschreienden Söldner. Aus dem Hinterhalt der Kellerfenster jagten Pistolenkugeln in die Beine und Bäuche der Eindringlinge. Der Widerstand war jedoch bald im Keim erstickt. Magdalena, die bislang geglaubt hatte, alle entsetzlichen Fantasien der Soldaten seit Jahren zur Genüge zu kennen, wurde bereits in den ersten Stunden eines grausamen Besseren belehrt. Vor einem Brauhaus, nur einige Häuser vom Krockentor entfernt, standen zwei große Fässer mit Bier, die oben eingeschlagen worden waren. Aus einem hatten zwei Landsknechte sich die Krüge gefüllt und tranken, als gäbe es kein Morgen mehr. In dem zweiten steckte kopfüber eine Frau, die gerade von einem Soldaten geschändet wurde. Sie strampelte vergeblich mit den Beinen, die Hände zuckten im Todeskampf, während der Soldat, der seinen Rock hochgebunden hatte, damit er mit einer Hand den Haarschopf des Mädchens ergreifen und ihren Kopf im Bier untertauchen konnte, immer wieder mit den Lenden zustieß, bis er erleichtert aufgrunzte und von seinem Opfer abließ. Die beiden anderen Soldaten standen lachend daneben, und machten sich sogleich nacheinander über die bereits Tote her. Voller Abscheu passierte Magdalena die albtraumhafte Szene, indes, es wurde nicht besser. Überall Entsetzen, Mord, Vergewaltigung und Totschlag. Tillys Soldaten nutzten den Freibrief zur Plünderung, den ihnen ihr General zugesagt hatte, weidlich aus.
Während der metallische Geruch von frisch vergossenem Blut durch die Luft waberte, wurden die Bürger aus ihren Häusern getrieben, auf Böcke gebunden und so lange mit Messern und mit brennenden Pechfackeln gefoltert, bis sie auch ihre letzten Geldverstecke preisgaben. Alle Frauen, egal ob blutjung oder steinalt, derer die Soldaten habhaft werden konnten, wurden vergewaltigt und geschändet, viele bis zum Tod. Und sogar vor den Toten kannte der Furor vieler Soldaten keine Gnade.
Die Soldaten machten auch vor kleinen Kindern und Säuglingen nicht halt. Sie hielten sie in den Armen und ermordeten sie auf grausamste Art und Weise, durchtrennten ihre Körper mit ihren Schwertern oder schlugen einfach ihre Köpfe gegen Hauswände oder Treppenstufen bis sie tot waren.
Mittlerweile war an verschiedenen Stellen Feuer ausgebrochen, was die Dramatik der höllischen Kulisse noch steigerte. Aus dem Pulverhof war das Explodieren der dort gelagerten Munition zu hören. Leichen trieben die Kanäle hinunter in die Elbe und stauten sich am Pfeiler der Holzmarschbrücke und der Zugbrücke. Der große Fluss begann sich rot zu färben.
Magdalena hatte in einem bereits leeren und geplünderten Haus eine schöne, massive, silberne Gürtelschnalle gefunden, die von den ersten einfallenden Plünderern entweder übersehen oder verloren worden war und sie sofort in ihrem Leintuch verstaut. Mittlerweile hatte sie sich bis zur Kirche St. Ulrich im Zentrum der Altstadt vorgearbeitet. Eine prallvolle Geldkatze war dort hinzugekommen, die Johannes ihr zugeworfen hatte. Er zog gerade sein Schwert aus dem blutigen Bauch eines wohlbeleibten, gut gekleideten, aber nun mausetoten Bürgers. »Der braucht sein Geld nimmer!«, schrie er dabei lauthals. Trotz des Infernos um ihn herum wirkte er geradezu fröhlich. Die Frauen von Tillys Soldaten waren mit farbigen Tüchern gekennzeichnet, damit sie nicht aus Versehen geschändet oder gemordet wurden. Viele von ihnen arbeiteten Hand in Hand mit ihren Männern wie eine eingespielte Bande.
So auch Johannes und Magdalena. Wenn er mit seiner Frau beim Plündern war, gab es nur selten Missverständnisse, eher eine traumwandlerische Zusammenarbeit. Aber heute war offensichtlich, dass Johannes mehr wollte. Seine Augen hatten einen blutrünstigen Ausdruck, den Magdalena so noch niemals bei ihm gesehen hatte. Sie hatte genug und wollte nur raus aus der Stadt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich erst wieder im Lager träfen. So winkte sie ihm zu, drehte sich um und machte sich auf den Weg Richtung Stadttor. Daher sah sie nicht, wie Johannes nur eine Minute später den Nimbus der ›Gefrorenheit‹ verlor. Eine verirrte Musketenkugel riss ihm das halbe Gesicht weg und kurz darauf wurde er selbst zum Opfer von Leichenfledderern aus dem eigenen Lager.
Auf ihrem Weg hinaus aus dieser Apokalypse ging sie erneut durch das Krockentor. Dabei passierte sie wieder das Brauhaus. Die zwei Fässer standen immer noch davor. Aber nun staken aus beiden die nackten Beine zweier bedauernswerter Magdeburger Mädchen wie Mahnmale heraus. Lediglich ein in Bier ertränktes Opfer hatte den Soldaten nicht genügt. Magdalena hatte Mitleid mit den beiden, ging zu ihnen hin und zog die außen an den Fässern herunterhängenden Röcke zumindest so weit hinauf, um wenigstens die Blöße zwischen den Beinen zu bedecken. »Hoffentlich wird mir einst ein gnädigerer Tod zuteil«, murmelte sie dabei und schickte gleich noch ein Stoßgebet zum Himmel.
Das Tor zum Brauhaus stand halb offen, so ging sie hinein. Tillys Mannen waren bereits, gleich zu Beginn, hier gewesen und hatten alles Inventar zerschlagen, soweit es nicht von Wert war. Das Feuer näherte sich unaufhaltsam, es war nur noch zwei Häuser entfernt. Eigentlich sollte sie sich schnell davonmachen, als sie ein Geräusch vernahm.
Neugierig ging sie in die nächste Kammer, die sich zu einem saalartigen Raum ausweitete, offensichtlich das Brauhaus. Da erblickte sie einen Mann – ein baumlanger Kerl, der einen Jungen und ein