Nie hätte ich das Buch »Die Wacht am Rhein« geschrieben, dieses Stück Geschichte aus den Siebzigerjahren und ein Gedenkblatt der Stadt Düsseldorf, wären die Erzählungen meiner Mutter nicht. Ja, die konnte erzählen! Es sind die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit, wenn ich an einem Schnupfenfieber oder an Masern oder wegen irgend eines anderen Übelbefindens im Bette liegen mußte – die Mutter erzählte ja.
»Mutter, erzähl’ doch, wie ihr euer Schweinchen geschlachtet habt und wie Wurst gemacht wurde« – »Mutter, erzähl’ mal, als der Napoleon durch euer Dorf gekommen ist auf der Flucht aus Rußland und der Vater von deinem Vater ihn an der Ecke im Schlitten halten sah, ganz bleich und vermummt« – »Mutter, weißt du das noch, wie die Polen wollten, daß die Stadt Posen ihnen gehörte und wie unser Papa oben an der Treppe stand, das Gewehr zur Verteidigung in Anschlag? Erzähl’s nochmal, aber mach’s recht lang, bitte, bitte!
Vielleicht hätte ich auch nie »Das schlafende Heer« geschrieben, ohne daß meine Mutter Bilder in mir erstehen ließ, Interessen in mir erweckte, die noch nach so vielen Jahren der Untergrund meines literarischen Schaffens wurden.
IIm Jahr 1848 kam mein Vater ins Frankfurter Parlament, meine Mutter ging mit ihm; eine weite, beschwerliche Reise, zum größten Teil in der Postkutsche, anstrengend für eine so junge Frau mit einem noch nicht einjährigen Knaben auf dem Schoß. Frankfurt am Main – Parlament – Paulskirche – Uhland, Gebrüder Grimm, Marx, Turnvater Jahn, Johann Jacobi, Robert Blum, Gagern, Eduard Simson – viele, viele berühmte Leute. Sie alle hat meine Mutter gekannt; vor ihrem unbetrüglichen Bild schwand freilich manches von jener Glorie, mit der eine leicht betrogenen Welt sie jetzt noch umgibt. Am interessiertesten hörte ich zu, wenn sie vom schönen Fürsten Lichnowski erzählte, jenem eleganten Kavalier und Damenliebling, den Frankfurter Pöbel bei seinem Spazierritt am Morgen vom Pferde riß und den hochmütigen Aristokraten dann weit draußen auf der Heide mit Steinen und Knütteln wie einen Hund zu Tode schlug.
Nach der Auflösung des Parlaments kamen meine Eltern nach Hohenzollern-Sigmaringen; die fünf Jahre dort waren die glücklichsten im Leben meiner Mutter. Kleinstadt und doch ein Fürstenhof, wunderbar schöne Umgebung, Berge, Wälder, die Donau, Schweizer Alpen so nah, und maskierte Schlittenpartien mit Glöckchengeklingel und wehenden Federbüschen in tiefen Wintern, fröhliche Picknicks auf tannenumdufteten sommergrünen Matten, Erdbeeren, Himbeeren, Forellen in Massen, so viele der Herrlichkeiten, daß meine Ohren nicht genug davon hören und meine Augen nicht genug staunen konnten.
Aus jenen Sigmaringer Tagen stammt das Porträt meiner Mutter. Ein seinerzeit berühmter Maler hat es gemalt; 1856 steht in der Ecke des Bildes. Heutzutage wird nicht mehr so gemalt, nicht mehr so die rosige Wange in die zarte Hand geschmiegt, nicht mehr so langbewimpert blickend die Augen, nicht mehr so der schönste Augenblick einer schönen Frau wiedergegeben. Und doch atmet jeder, der in mein Zimmer tritt, tief auf: »O, wie schön!« und bleibt lange stehen vor dem Bild und sieht auf zu diesem unendlich lieblichen, jugendverklärten, lächelnden Gesicht.
So schön habe ich meine Mutter nicht mehr gekannt, ich wurde erst geboren, als mein Vater als Oberregierungsrat im Jahre 1860 nach Trier an die Mosel versetzt worden war. Aber schön war meine Mutter immer noch – nicht nur in meinen Augen –, ein Gesicht so fein, so voll fraulicher Anmut, wie es die jetzige Zeit nicht mehr bildet. Von Trier an der Mosel nach Düsseldorf an den Rhein – Krieg, Krankheit, Tod, viele Sorgen, großes Leid, aber dieses Gesicht behielt seine weichen Linien, es wurde nicht hart. Und auch die Seele der Frau wurde nicht hart, sie erhärtete sich nur im tapferen Kampf mit dem Dasein als Witwe.
Das Schicksal hat meine Mutter gegen die Neige ihres Lebens wieder in die Nähe ihres Ausgangspunktes zurückgeführt. Es wurde ihr schwer, den Westen Deutschlands zu verlassen, wo das Grab des Vaters liegt und lange, schöne Erinnerungen noch lebendig blühten, aber sie opferte eigenen Wunsch dem Wunsch der Tochter; wir zogen wieder gen Osten – nach Berlin. Und so kam sie wieder jener Landstraße näher, über die sie einst im Karren gestolpert war. Die war nicht ganz mehr so, wie die Mutter sie meinen Kindheitstagen gezeigt hatte – sondern besser ausgebaut worden. Aber doch noch lange, lange nicht gut genug.
Gott sei Dank, daß meine Mutter es nicht mehr erlebt hat, daß jene Stadt, für deren Deutschtum mein sonst so friedliebender Vater den Gewehrlauf an die Backe legte und Posten auf der Treppe stand, polnisch wurde! Daß die Stätte, mit der sie erste Liebe verknüpfte, an der ihr Vater gut deutsch gepredigt hatte, daß jene unendlichen Weizenbreiten – volle Kornkammern Preußens – den Polen anheimfielen. Und dem Himmel sei Dank, daß sie schlafen ging vor dem größten aller Kriege.
Nun bin ich oft, sehr oft an ihrem Grab auf dem Kirchhof zu Zehlendorf, fern brandet Berlin, sie liegt und schläft ganz im Frieden. Aber ihre Stimme spricht noch immer zu mir; meine Mutter erzählt mir noch immer gar manches, und ich merke auf.
Als ich neulich, unfern ihrer Stätte auf einem Bänkchen still dasaß, kam ein Herr gegangen, er führte zwei Kinder mit sich und er blieb stehen vor dem Marmorgedenkstein, auf dem, was Liebe hingeschrieben, Regen und Schnee schon ein wenig verwaschen hat, auf dem nur die großen goldenen Buchstaben des Namens – Klara Viebig – noch hell leuchten, und er sagte zu dem Ältesten der Knaben: »Ah, sieh mal, da liegt die Schriftstellerin Klara Viebig!«
Nein, die Schriftstellerin Klara Viebig liegt hier nicht, es ist ihre Mutter, die Erzählerin Klara Viebig, das hätte ich ihm sagen können. Aber ich schwieg und ließ ihn vorüber. Ich war doch ein wenig bestürzt. Dann aber trat ich dichter an den Hügel heran und legte meine Hand auf dessen Efeu, und zu der Stimme, die plötzlich zu mir herauf – oder war es aus mir heraus? – etwas sprach, sprach ich wie zur Antwort: »Laß mich dereinst meinem Sohn so gegenwärtig sein, wie du mir noch immer gegenwärtig bist und stets gegenwärtig bleiben wirst – o, meine Mutter!«
Textquelle:
Linzer Tages-Post, 17. Juli 1930, S. 3–4
Grundwasser
Novellette
Ja, es ist eine eigentümliche Geschichte mit dem Grundwasser! – Daß der Rhein seine Mucken hat, ist bekannt, dafür ist er eben ein alter Herr; alte Leute sind immer wunderlich. Besonders, wenn’s aufs Frühjahr geht, wenn feuchte Winde aus Westen wehen und die Märzsonne mit scharfer Zunge an Eis und Schnee leckt, daß den Bergen die Tränen übers Gesicht rinnen, dann fasst den alten Herrn eine merkwürdige Unruhe. Er dehnt sich, er reckt sich, er wächst, er schwillt, er greift übers Ufer, schier, als ob er ein ganz gemeiner Langfinger sei und kein ehrwürdiger Patriarch unter den Gewässern. Und zieht dann gar noch der Himmel seine Schleusen auf und lässt den Regen herunterströmen, was so gemeinhin »pladdern« oder mit »Mulden gießen« heißt, dann ist eben in ein paar Tagen die netteste Überschwemmung fertig, und die Menschen schreien Ach und Oh. Das kommt davon, warum setzen sie sich dem Rhein auf die Nase!
Was eine Rheinüberschwemmung heißen will, weiß jedermann, und ich werde mich wohl hüten, sie zu beschreiben. Ich lasse lieber Vater Goethe das Wort, der Band II in den Cantaten erhaben einfach spricht:
»Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust!«
Da kann man in kurzen Versen eine lange Geschichte lesen von Angst und Verzweiflung, Heldenmut und Aufopferung, da hört man die Wellen heranrauschen, den Sturmwind heulen, die Mauern zusammenstürzen, die Balken knicken wie dürres Rohr, da sieht man die endlose Wasserwüste und darüber