Der Scharfschütze machte sich bereit, den Mann erneut anzugreifen, bevor dieser sich wieder aufrappeln konnte. Mit einem Mal flammten mehrere Laserzielvisiere aus der Finsternis auf. Wolfgang sah an sich herab und musterte das halbe Dutzend roter Punkte, die alle dicht bei seinem Herzen verharrten. Er hob das Haupt und fletschte die Zähne. »So ein Mist!«, fluchte er.
Melanie St. John benötigte lediglich Sekunden, um das hoch komplizierte Schloss am Tor der Familiengruft der Blackburns der knacken. Insgeheim war Dexter froh, sie mitgenommen zu haben. Ihm selbst wäre der Vorgang deutlich schwerergefallen.
Das Tor schwang quietschend auf. Dexter sah sich eilig um. Die Dunkelheit blieb jedoch friedlich. Kein Nachtwächter eilte herbei, um nach dem Ursprung des Geräusches zu suchen.
Melanie trat beiseite und überließ es Dexter voranzugehen. Dieser setzte seinen Fuß auf die erste Stufe. Aus Erfahrung wusste er, die Treppe führte nur acht Stufen in die Tiefe. Dennoch gelang es ihm nicht, die Dunkelheit zu durchdringen, trotz seiner bereits eingesetzten Nachtsicht. Solange er auch in die Finsternis starrte, diese starrte lediglich zurück und schien sowohl Körper als auch Geist zu durchdringen. Er schauderte. Der Schauer, der seinen Rücken hinablief, hinterließ eine unangenehme Gänsehaut.
Dexter wurde bewusst, dass er wie erstarrt auf dem oberen Treppenabsatz verharrte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was wohl gerade seine Begleiter von ihm dachten. An der Wand befand sich ein Lichtschalter. Er entschloss sich jedoch, diesen nicht zu benutzen. Es würde unliebsame Aufmerksamkeit auf sie ziehen.
Stattdessen zog er seine Taschenlampe hervor und beleuchtete den Weg voraus. Er nahm einen kurzen Atemzug und rümpfte unwillkürlich die Nase. Die Luft roch muffig nach verrottendem Fleisch. Der Geruch des Todes haftete diesem Ort an. Nun, das war keine Überraschung. Es wunderte ihn lediglich, warum er nicht zuvor damit gerechnet hatte.
Dexter setzte seinen Weg fort und bemühte sich dabei, flach und durch den Mund zu atmen. Wenige Meter weiter erreichten die drei Männer und Melanie St. John eine weite Kammer mit hoher Decke.
Dexter blieb ehrfürchtig stehen. In dieser Gruft lagen die sterblichen Überreste von sechs Generationen der Blackburns. Männer und Frauen, die sogar schon gegen die Solare Republik im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten. Er senkte andächtig den Blick. Dexter kam sich hier vor wie ein Eindringling. Dies war ein heiliger Ort für seine Familie. Ein Ort der Ehre. Dexter hatte immer angenommen, auch einmal hier beigesetzt zu werden. Neben seinem Bruder, seiner Mutter … seinem Vater.
Er ging weiter, hielt nur einmal schweigend am Sarg seiner Mutter inne. Dexter sprach in Gedanken einige Worte. Es handelte sich um ein kurzes Gebet, das die Toten auf ihrem Weg begleiten sollte. Dexters Mutter war, schon Jahre bevor er auf die Asylum gekommen war, an einer schweren Krankheit gestorben. Sein Vater hatte sich niemals gänzlich davon erholt. Dexter fragte sich, welchen Verlauf die Geschichte seines Vaters und auch seine eigene genommen hätte, wäre die Gräfin Blackburn nicht derart früh aus dem Leben gerissen worden. Ihre ruhige, besonnene Präsenz hatte immer mäßigend auf Dexters heißblütigen Vater eingewirkt. Und auch auf ihre gemeinsamen Söhne.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Melanie flüsternd.
Dexters Gedanken kehrten ins Hier und Jetzt zurück. Er schüttelte den Kopf, als würde er aus einem Traum erwachen. Schließlich nickte der Skull-Offizier. »Du hast recht.«
Er wandte sich dem Sarg seines Vaters zu. Dieser stand direkt neben dem seiner Mutter. Dexter machte eine knappe Handbewegung. Melanie und er positionierten sich auf der rechten Seite, Lincoln und Red auf der linken. »Auf drei«, wies Dexter sie an. Er holte tief Luft und eröffnete den Countdown. »Eins … zwei … drei!« Bei der letzten Zahl stemmten die vier Gefährten den Sargdeckel in die Höhe und legten ihn behutsam beiseite.
Das verdammte Ding war weit schwerer, als er angenommen hatte. Stockend atmend richtete sich Dexter wieder auf. Er konnte es kaum erwarten, endlich den einbalsamierten Körper seines Vaters zu untersuchen. Er musste einfach wissen, was Saizew mit seiner geheimnisvollen Andeutung gemeint hatte. Der Präsident der Freien Republik Condor hatte es inmitten einer blutigen Schlacht für nötig gehalten, Dexter auf diesen Weg zu bringen. Der Mann hatte sich etwas dabei gedacht und Dexter war entschlossen herauszufinden, worin dies bestand.
Dexters Blick richtete sich auf das Innere des Sargs und er verharrte fassungslos. Eine eisige Klammer schien nach seinem Herzen zu greifen und mit aller Kraft zuzudrücken. Seine drei Kameraden erstarrten nicht weniger verblüfft. Der Sarg war leer.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, flüsterte Dexter mit kaum unterdrücktem Zorn. Er runzelte die Stirn. »Jemand hat seine Leiche gestohlen!«
Clayton Redburn beugte sich tief hinunter und sog leicht die Luft ein. Schließlich richtete er sich kopfschüttelnd auf. »Das bezweifle ich. In dem Sarg hat niemals eine Leiche gelegen.« Er sah auf und musterte Dexter mitfühlend. »Es tut mir leid, Commodore, aber die sterblichen Überreste Ihres Vaters waren niemals hier.«
Dexter versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seinem Hals zu bilden drohte. Es gelang ihm nicht völlig. Bevor er etwas erwidern konnte, ging schlagartig das Licht in der Gruft an. Die Skull-Offiziere blinzelten in der unerwarteten Helligkeit. Tränen traten in Dexters Augen und behinderten seine Sicht zusätzlich. Er ließ die Taschenlampe fallen und griff nach der unter seiner Jacke verborgenen Waffe.
»Das würde ich nicht tun«, sprach ihn eine befehlsgewohnte Stimme an.
Waffen wurden durchgeladen und er spürte mehr, als er es sah, dass ein Dutzend Gewehrläufe auf seine Kameraden und ihn gerichtet wurden. Dexter blinzelte gegen die Helligkeit an. Seine Sicht klärte sich etwas. Er begann, Umrisse wahrzunehmen.
Der Raum hatte sich mit Bewaffneten gefüllt, allen voran zwei Männer. In dem einen meinte er Vladimir, den Anführer des gräflichen Personenschutzes, zu erkennen. Der andere war sein Bruder.
Miles Blackburn trat mit angelegter Waffe einen Schritt vor. »Willkommen zu Hause, Bruder!« Die Stimme des amtierenden Grafen von Beltaran nahm einen harten Tonfall an. »Du hättest auf mich hören und dich von dieser Welt fernhalten sollen.«
Falls Lennox während seiner Reise zur Asylum den Eindruck gehabt hatte, sein Zeitgefühl zu verlieren, dann war es nun dabei, sich vollends zu verabschieden.
Seine ganze Welt bestand nur noch aus Schmerz oder dem Warten, dass der Schmerz begann. Die ersten zwei Wochen auf der Asylum, verbrachte er in Einzelhaft. Danach holte man ihn zwei Wochen lang jeden Tag ab, verhörte ihn, verprügelte und folterte ihn. Anschließend brachte man ihn auf die Krankenstation, wo der zuständige Arzt ihn wieder zusammenflickte, damit am nächsten Tag alles von vorn beginnen konnte.
Lennox ging davon aus, dass er nichts verriet, auch wenn er dessen nicht hundertprozentig sicher sein konnte. Bei Verhören unter Folter ging es gerade darum, den Geist des Gefangenen so weit zu brechen, dass dieser nicht mehr klar denken konnte. In diesem Zustand wurden die meisten Informationen preisgegeben.
Allerdings war er noch am Leben. Das war ein gutes Zeichen. Hätte er geredet, hätten sich die Verantwortlichen schnellstmöglich seiner entledigt. Vermutlich wäre er durch die nächste Luftschleuse im All gelandet. Die ganze Zeit über sah und hörte er nichts von Barrera. Lennox machte sich große Sorgen um den Gunny. Während des Verhörs hatte der zuständige Offizier immer wieder betont, dass Barrera geredet hätte und es keinen