Rechts und links. Roth Józef. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roth Józef
Издательство: Public Domain
Серия:
Жанр произведения: Повести
Год издания: 0
isbn:
Скачать книгу
Kunstgeschichte, nach England, zur Kavallerie und zum Pazifismus gebracht hatte. So wie er einmal ein vollkommener Angelsachse hatte werden wollen, so versuchte er jetzt, ein vollkommener Infanterist zu werden.

      Aber von diesen geheimen Trieben wußte er selbst wenig. Über ihnen lag, dicht und schwer wie dieser Novembertag, eine trübe, neblige Gleichgültigkeit. Er saß schon seit Stunden allein in dem kalten Abteil zweiter Klasse. Der andere Passagier, der es zwei Stunden lang mit ihm geteilt hatte, war längst ausgestiegen. Obwohl der Abend noch nicht gekommen war, blinzelte schon in das Halbgrau des Nachmittags die fettige Lampe, gelb und ölig erinnerte sie Paul an Lichter auf Gräbern zu Allerseelen. Manchmal wischte er mit dem Ärmel über das angelaufene Glas der Fensterscheibe, um sich zu überzeugen, daß sich der Zug wirklich bewegte. Dann sah er den grauen Vorhang des Novemberregens über diesem Hinterland, das schon in die Etappe überzugehen begann, und hinter dem Vorhang kleine Dörfer, verlassene und zerstreute Gehöfte, Frauen mit den Rockschößen über den Köpfen, schwarze Juden in langen Gewändern, gelbe Stoppelfelder und gelbe, gewundene Straßen, deren schwarzer Schlamm durch den Regen schimmerte, aufrechte und geknickte Telegraphenstangen, Feldküchen, verloren und halb versunken im Kot, marschierende Trainsoldaten, dunkelbraune Baracken, Schienen und kleine Stationen, an deren jeder der Zug halten mußte. Er hielt übrigens oft auch zwischen den Stationen. Es war, als hätte der Zug selbst Bedenken vor dem Feld, dem er sich näherte, und als benutzte er jede Gelegenheit, um stehenzubleiben und auf den Waffenstillstand zu warten.

      So absurd dieser Gedanke war und so merkwürdig die Furcht Pauls, er konnte zu spät in den Krieg kommen, so huschte doch die Vorstellung hin und wieder durch sein Hirn, die Vorstellung, daß sie jetzt draußen dabei waren, Frieden zu schließen, und daß er sich in der fürchterlichen Lage befinden würde, so, wie er war, unverändert und mit der Erinnerung an sein letztes, beschämendes Erlebnis mit dem Kosaken behaftet, in das friedliche Leben zurückzukehren. Seinen momentanen Bedürfnissen entsprach ein Krieg, der noch mindestens fünf Jahre dauern sollte. So ratlos sah er sich dem Frieden entgegentreten, seinem Haus, seiner Mutter, der Bank, dem Dienstpersonal und den Beamten. Wenn er sich erinnerte, daß er noch vor gar nicht langer Zeit flammende Proteste gegen den Krieg geschrieben und geredet hatte, so verstand er die vergangenen Monate und Jahre nicht mehr. Sie lagen unbegreiflich hinter dem schrecklichen Erlebnis mit Nikita, hinter diesem rätselhaften Erlebnis. Ein Mann hatte ihn bedroht, verwundet, besiegt und war verschwunden. Nichts weiter. Ja, aber dieser Mann weiß vielleicht mehr von mir, alles von mir, mehr als ich selbst. Er hält mein Leben in der Hand, er kann mich vernichten – und ich sehe ihn nicht, er ist für immer verschwunden. Mein Leben aber – so tröstete er sich – halte ich jetzt selbst in der Hand, solange ich an der Front bin. Ich kann jeden Augenblick sterben. Übrigens, wenn der Ukrainer etwas weiß, ich leugne alles. Ich werde tapfer sein, man wird mir glauben. Vielleicht hat der und jener meiner früheren Freunde und Genossen mich verraten. Ich leugne. Man hat keine Beweise. Nicht einmal Artikel mit meiner Handschrift, denn ich habe sie auf der Maschine schreiben lassen, unter einem fremden Namen. Und schließlich ist es auch gleichgültig.

      Es beruhigte ihn, sooft der Zug stehenblieb, die hartnäckige, eintönige Melodie des Regens zu hören, der mit der gleichen Ausdauer und der gleichen sanften Eindringlichkeit über Hunderte von Meilen ausgebreitet war und der die Entfernungen aufzuheben schien, die Verschiedenheit der Gebiete und der Landschaften. Die Welt bestand nicht mehr aus Bergen, Tälern und Städten, sondern nur noch aus November. Und in dieser bleiernen Gleichgültigkeit gingen Pauls Kümmernisse zeitweilig unter. Er fühlte sich eins mit irgendeinem der wehrlosen Gegenstände auf den Feldern, die dem Regen preisgegeben waren, den kleinsten, geringfügigsten, leblosen Wesen, einem Strohhalm zum Beispiel, der ohne Willen dalag und sein Ende erwartete, in voller Glückseligkeit eigentlich, insofern er Glück zu empfinden imstande gewesen wäre. Ein Bach konnte ihn mitnehmen und davontragen, ein Stiefel ihn zertreten.

      Also empfand Paul zum erstenmal den Krieg, und wie die Millionen eingerückter Männer fühlte er den erhabenen Gleichmut derer, die sich blind einem blinden Schicksal unterwerfen. Ich werde wahrscheinlich untergehen, dachte er mit einem süßen Trost. Und als der Abend weiter vorrückte und hinter den Scheiben die schwarze Wand der Finsternis sich erhob, im Innern des Wagens das trübe Licht stärker wurde, kam er sich für lange Sekunden wie ein Toter vor, ein Toter in einer beleuchteten Gruft. Weit hinter ihm lagen die Sorgen und Freuden, die Ängste und die Hoffnungen des Lebens. Er war ihnen allen entflohen. Es gab für einen Flüchtling wie ihn kein ruhigeres Ziel, keinen sichereren Zufluchtsort als die Front und den Tod.

      Er erinnerte sich an das Testament, das er kurz vor der Abreise verfaßt hatte. Für den Fall, daß er starb, verblieb alles seiner Mutter, nur ein ganz geringer Teil seinem Bruder, den auch der Vater in seinen Testamenten nicht erwähnt hatte. Den Gedanken an Theodor verscheuchte Paul schnell, er mochte nicht an den Bruder denken. Obwohl er freiwillig und sogar gerne in den Tod ging, überfiel ihn immer wieder ein kleiner, hurtiger Neid gegen den jüngeren Bruder, der sicher dahinwandelte im Schutz seiner Jugend, sicher vor dem Krieg und sicher, das Ende des Krieges zu erleben und bessere Zeiten. Er verdient es nicht! sagte sich Paul. Wieder ergab er sich der Seligkeit der Todesahnungen.

      In dieser Stimmung übertrieb er den Reichtum, die Dauer und die Fülle seiner vergangenen Jahre. Auch diese Übertreibung noch diktierte ihm sein hochmütiges Selbstbewußtsein. Ich bin reich gewesen, sagte er sich, jung, schön, kräftig gewesen. Ich habe Frauen besessen, die Liebe gekannt, die Welt gesehn. Ich kann ruhig sterben. Plötzlich überfiel ihn die Erinnerung an Nikita. Ich hätte, dachte er, früher an die Front gehn sollen. Ich hätte kein Kriegsgegner werden sollen. Ich gehe jetzt nicht freiwillig in den Tod, sondern gejagt. Es geschieht mir recht.

      Je weiter die Nacht fortschritt, desto mehr Kälte brachte sie. Paul versuchte, die Lampe auszulöschen. Er wollte still im Finstern liegen, die Vorstellungen von einem Grab sollten vollkommen sein. Er wollte in einem rollenden Grab liegen und ins Jenseits fahren. Die Lampe ließ sich nicht auslöschen, sie war das Ewige Licht, sie brannte schon für sein Seelenheil. Er konnte nicht einschlafen. Er versuchte, mit gefrorenen Fingern etwas in sein Notizbuch zu schreiben. Schreiben macht klar! dachte er. Er war unfähig, auch nur einen Satz aufzuzeichnen, und er begann, sinnlose Ornamente über die weißen Blätter zu ziehen, wie einst in der Religionsstunde. Seine Kollegen aus der Schulzeit fielen ihm ein. Es gelang ihm, das eine und das andere Gesicht aufzuzeichnen, er rekonstruierte die ganze Klasse, die Schulbänke, die Lehrer.

      Darüber verging die Nacht.

      Am nächsten Morgen war der Regen dünner Hagel und glasiger Schnee geworden, und seine Tropfen hämmerten mit einem zarten, metallenen Klang gegen die Fenster.

      Der Zug näherte sich der letzten Bahnstation. Es war der Rand der Welt. Hier begann die schmalspurige, von Pferden gezogene Kleinbahn. Sie führte unmittelbar zum Regimentskommando.

      Paul fuhr mit einigen Soldaten, die vom Urlaub zurückkehrten, in dem offenen, niederen Wagen. Wie durch eine dicke Mauer hörte er ihren Gesang, den das ferne Trommelfeuer begleitete. Er fühlte kaum den Wind und den stechenden Eisregen. Er sah die ersten Verwundeten, die mit weißen Verbänden am Arm der Sanitäter den langen Weg zurückhumpelten, die Blutspuren, die sie auf der schwarzen, feuchten Erde zurückließen und auf dem weichen, dichten, gelben Lehm. Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, den Blick reglos auf die Gruppen der Zurückgehenden gerichtet, auf das blendende Weiß, das lackrote Blut, das verkrustete Grau der Uniformen, den schwarzen Kot der Straße, stand Bernheim in der Ecke. Die Schüsse wurden deutlicher, die Soldaten hörten auf zu singen, ein zweiter Tag senkte sich der Dämmerung entgegen.

      Er kam, als die Nacht anbrach, in die Stellung und hatte unerwartetes Glück; Glück, wie er es damals verstand, und noch in einem anderen Sinn. In dieser Nacht erwartete man einen Sturmangriff. Alle Kameraden schrieben Feldpostkarten nach Haus. Nicht aus einem Bedürfnis, aber nur, um nicht aufzufallen, schrieb auch Paul an seine Mutter. Sie wird vielleicht um mich weinen, sagte er sich, und er dachte an das Begräbnis seines Vaters und an die Tränen in den blanken Eisaugen seiner Mutter. Für seinen Bruder Theodor fügte er keinen Gruß hinzu. Aber er starb nicht, Paul Bernheim! Ein Bajonett durchbohrte seine rechte Wange. Er kam am nächsten Morgen ins Feldspital. Man nahm eine Kieferoperation vor. Während seine Wunde heilte, bekam er Typhus und wurde in ein Epidemiespital in die Etappe abgeschoben. Es war, als ob der alte Felix Bernheim über