Der Landdoktor Classic 40 – Arztroman. Christine von Bergen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine von Bergen
Издательство: Bookwire
Серия: Der Landdoktor Classic
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740966492
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aus einem Traum aufwachend sah Sibylle sie an. »Ach, nichts Schlimmes. Manchmal tut es hier nur weh. Alles Erschöpfung«, tat sie ihre Beschwerden betont munter ab.

      »Vielleicht sollten Sie sich noch einmal untersuchen lassen, bevor Sie in Baden-Baden auftreten. Das sage ich nicht, weil mein Mann Arzt ist«, fügte sie rasch hinzu.

      Die junge Frau lachte. »Falls ich mich in den Tagen hier schlechter fühlen sollte, suche ich Ihren Mann selbstverständlich auf. Nicht, weil er der einzige Mediziner vorort ist, sondern vielmehr, weil ich ihn sehr sympathisch finde. Anders als die Ärzte in den Großstädten, für die die Kranken nur eine Nummer sind, falls sie weder Geld noch Namen haben.«

      *

      Das kleine restaurierte Bauernhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert lag wie ein Schmuckstein im grünen Tannengrund, etwa zweihundert Meter entfernt vom Hotel. Ein in allen Farben blühender Garten, den ein weißer Zaun von dem übrigen Gelände abgrenzte, gab dem Häuschen seinen ganz besonderen Charme. Die Inneneinrichtung, die aus Bauernantiquitäten bestand, erzählte vom guten Geschmack seines Eigentümers, der – wie Sibylle Bachmann vom Hotelmanager erfuhr – auch der des Hotels war. Die heimelige Atmosphäre des Hauses unterschied sich für die berühmte Schlagersängerin wohltuend von den vielen luxuriös eingerichteten Hotelsuiten, in denen sie auf ihren Tourneen wohnte. Es überraschte sie selbst, aber sie fühlte sich hier von der ersten Minute an wie zu Hause.

      Am Abend ihrer Ankunft konnte sie von der beschaulichen Ruhe und der guten Luft um sich herum nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die bewaldeten Höhen schlich, überhauchte die untergehende Sonne die Tannenspitzen mit dunklem Purpurrot. Hinter den Schwarzwaldhügeln, am weiten Horizont, sah man noch einzelne lang gezogene Wolkenstreifen, mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Stille der Natur gestört hätte. Fasziniert beobachtete sie, wie die Farben um sie herum verblassten. Dann tauchte im Osten der Mond auf. Das vielstimmige Geläut der Kuhglocken verklang, und die Steinache, die hinter dem Haus vorbei plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Spätnachmittag.

      Die Sängerin lächelte versonnen vor sich hin.

      Wie gut tat diese Idylle ihrem ausgebrannten Körper. Selbst während ihres mehrwöchigen Sanatoriumsaufenthalts hatte sie sich nicht so wohl gefühlt wie an diesem Abend im Ruhweiler Tal.

      *

      Am nächsten Morgen wurde Sibylle von dem vielstimmigen Konzert der Vögel geweckt. Auf ihrem Gesicht lagen warme Sonnenstrahlen. Mit geschlossenen Augen blieb sie noch einige Minuten liegen, um den gefiederten Sängern zu lauschen. Die süße Melodie drang tief in ihr Herz. Sie konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit jemals so gut geschlafen zu haben wie in diesem breiten weichen Bauernbett, über das sich ein zartblauer Baldachin spannte, so zartblau wie der Himmel an diesem Morgen.

      Nach einem deftigen Frühstück, das der Hotelmanager ihr höchstpersönlich servierte, beschloss sie, ihre erste Wanderung zu machen. In Jeans, Wanderschuhen und einem Rucksack auf dem Rücken marschierte sie los. Wie in Schulzeiten, wenn sie am Wochenende mit anderen Jugendlichen auf Freizeit in den österreichischen Bergen unterwegs gewesen war. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.

      Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich voller Neugier und Unternehmungsgeist. Wie ungewohnt war es, seit Jahren wieder einmal ganz allein unterwegs zu sein. Wenn sie auf Tournee war und Ausflüge in der jeweiligen Gegend machte, wurde sie stets von mindestens zwei Bodyguards begleitet. So wollte es ihr Agent haben.

      Sibylle atmete tief durch. Nur kurz verspürte sie wieder den Schmerz in der Mitte ihrer Brust. Das dieser kein Anzeichen für einen Herzinfarkt sein konnte, beruhigte sie. Für einen Infarkt war sie noch zu jung, so hatte ihr der Arzt in der Rehaklinik gesagt.

      Die Luft duftete nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh, Sibylle kannte sie alle. Sie blieb stehen, um die kunstvoll gestalteten Blüten, diese bunten Wunder der Natur, zu betrachten. Von hier oben aus hatte sie auch einen traumhaften Blick auf die Bauernhäuser im Tal, den goldenen Wetterhahn auf dem Kirchturm, der ihr wie zum Gruß entgegen blinkte, und all die Hügelketten des südlichen Schwarzwaldes, die sich bis zum Horizont hintereinander aufstellten.

      Flotten Schrittes wanderte sie trotz ihrer Schmerzen in den Tannenwald hinein, in dem eine angenehme Kühle herrschte. Über ihr fächelten die Äste im lauen Wind. Vögel sangen auch hier um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machte.

      Sibylle schritt zwischen den hohen, gerade aufragenden Tannen dahin. Dabei ließ sie den Blick über den Boden gleiten, immer auf der Suche nach besonderen Pflanzen. Moos wuchs zu ihrer Linken und lud zum Sitzen ein. Dieser Versuchung konnte sie nicht widerstehen, zumal sie sich schon wieder erschöpft fühlte. Sie setzte sich, legte die Handflächen auf den samtweichen Boden und schließlich legte sie sich ganz hin. Mit hinterm Kopf verschränkten Armen blickte sie nach oben in das dunkle Grün der Tannen, zwischen dem hier und da der Himmel durchblitzte. Wenn die Äste im Wind schaukelten, drang auch ein vorwitziger Sonnenstrahl zu ihr herunter, der sie zwang, die Augen zu schließen. Irgendwann schlummerte sie ein.

      *

      Sibylle wurde wach durch ein Geräusch. Was war es gewesen? Ein Knacken in den Zweigen, der Ruf eines Eichelhähers? Sie öffnete die Lider und bemerkte den Schatten, der über sie fiel. Jäh sprang sie auf, wich erschrocken vor dem jungen Mann in grünem Overall zurück, einem sehr gut aussehender Mann mit dunklen, eindringlich blickenden Augen. Sein kantiges gebräuntes Gesicht verlieh ihm eine männliche Ausstrahlung. So, wie er da stand, groß, breit, mit einem Strahlen auf dem Gesicht, umgab ihn eine Aura von Stärke.

      »Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich.

      Inzwischen hatte sie sich von der Überraschung erholt und lächelte zurück.

      »Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte.

      »Ein toller Tag, gelt?« Blanke weiße Zähne blitzten sie an, genauso wie diese großen Männeraugen. »Hier kannst du nicht liegen bleiben«, erklärte ihr der Dunkelhaarige. »Wir wollen in der Nähe holzen. Nicht, dass du noch erschlagen wirst.«

      »Okay«, erwiderte sie.

      Was für ein toller Typ, was für Augen. Sie schienen ihr direkt in die Seele zu blicken. Seine Ausstrahlung, seine Nähe machten sie ganz nervös. Er passte hierhin, in diese noch unberührte urwüchsige Natur, ohne hinterwäldlerisch zu wirken. Er strahlte etwas Wildes aus, etwas Unbezähmbares. Und er hatte sehr schöne Hände, wie ihr jetzt auffiel, als sie seinem Blick auswich. Große Hände, denen man ansah, dass sie zupacken und bestimmt auch beschützen konnten.

      »Okay, danke, dann werde ich jetzt mal weitergehen«, sagte sie betont locker.

      »Wohin willst du denn?«, erkundigte er sich.

      Sie lachte verlegen. »Ach, das weiß ich auch nicht so genau. Nur in die Natur«, fügte sie dann hinzu.

      »Da bist du jetzt. Schöner kann es nirgendwo sein.«

      »Doch, in den bayrischen Alpen«, erwiderte sie spontan, was sie gleich darauf bereute.

      Wie kam sie dazu, sich mit diesem ihr Wildfremden ins Gespräch zu begeben und dazu auch noch zu verraten, woher sie stammte?

      »Ich höre es, du stammst aus Bayern«, sagte er augenzwinkernd. »Ich mag euren Dialekt.«

      Sie räusperte sich, wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wie ungeübt war sie doch in ganz normalen Gesprächen mit ganz normalen Menschen geworden.

      »Wenn du eh kein genaues Ziel hast, schlage ich dir das Hexenhäusle vor. Es liegt etwa drei Kilometer von hier entfernt auf einer herrlichen Hochebene mit Blick über den südlichen Schwarzwald. Die Schwarzwälderkirschtorte ist dort hervorragend.«

      Sie sah zu ihm hoch und lachte ihn an. »Danke für den Tipp. Also dann …«

      Verwirrt