Es war Mittagszeit. Die Hüttengäste saßen auf der Terrasse. Toni, der Hüttenwirt, und seine Frau Anna trugen das Mittagessen auf. Der warme Südwind wehte das Glockengeläut zur Mittagszeit aus Waldkogel herauf.
Plötzlich blieb Anna stehen und schaute in Richtung Tal.
»Toni, das sind doch die Kinder! Warum kommen sie so früh aus der Schule?«
Anna drückte Toni den Teller in die Hand und lief Sebastian und Franziska über das Geröllfeld entgegen.
»Basti! Franzi! Ihr seid schon da? So früh? Was ist denn los?«
»Ach, die Schule war früher aus. Die Lehrer machen irgend so eine wichtige Besprechung. Wir wurden alle schon nach zwei Stunden heimgeschickt.«
Sebastian machte nicht den Eindruck, daß er sich darüber freute. Warum? Anna rätselte. Sie erinnerte sich an ihre Schulzeit. Freistunden waren immer ein besonderer Grund zur Freude.
»Bist so traurig darüber, daß der Unterricht ausgefallen ist? Was hättest du noch für Stunden gehabt?«
Sebastian Bichler hüllte sich in Schweigen. Es war offensichtlich, daß der Bub schmollte. Seit die Bichler Kinder nach dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern auf der Berghütte lebten, war so etwas noch nicht vorgekommen. Franziska, Sebastians kleine Schwester, antwortete Anna.
»Anna, des ist es net. Der Basti wollte den Großvater Xaver überreden, mit ihm angeln zu gehen. Der Großvater wollte des auch. Doch dann sind Leut’ gekommen. Die wollen des ganze Wirtshaus mieten mit allen Zimmern und so.«
»Wer ist es denn? Es kann doch niemand aus Waldkogel sein, oder?«
»Doch!« brummte Basti. »Es war der Unterholzerbauer mit seiner Frau. Jedenfalls hat der Großvater Xaver dann keine Zeit mehr gehabt.«
»Und Großmutter Meta hat auch nimmer Zeit gehabt. Wir sollten draußen spielen gehen«, ergänzte die kleine Franziska.
»Dann sind wir mit einem Fuhrwerk ein großes Stück den Milchpfad hinaufgefahren. Bis rauf zur Oberländer Alm war’s dann nimmer so weit«, gestand Sebastian etwas kleinlaut. »Unsere Ranzen haben wir net mitgenommen. Die sind noch drunten. Aufgaben hat es heute keine gegeben.«
»Stimmt, Kinder! Ihr habt die Schulranzen nicht dabei.«
Anna legte ihren Arm um Sebastian und nahm die kleine Franziska bei der Hand.
»Ich kann verstehen, daß du traurig bist, Basti. Aber den Großvater Xaver und die Großmutter Meta, die mußt du auch verstehen. Die Arbeit geht vor. Sie müssen nun einmal Geld verdienen. Es kommt nicht oft vor, daß jemand gleich die ganze Wirtsstube und alle Zimmer mieten will. Ich werde aber mit dem Großvater Xaver reden. Er wird bestimmt ein anderes Mal mit dir zum Angeln gehen. Außerdem ist es doch viel besser, ganz früh am Morgen oder am Abend zum Bergsee zu gehen. Da beißen die Fische gut. So am späten Vormittag, da hättet ihr kaum einen Fisch gefangen. Das mußt du mir glauben, Basti. Ich kenne mich mit Fischen aus. Schließlich bin ich ja am Meer groß geworden.«
Toni hatte fertig aufgetragen und kam ihnen jetzt entgegen. Anne berichtete ihm mit wenigen Worten, was ihr die Kinder erzählt hatten.
»Ja, des ist schade. Aber einfach losgehen, ohne etwas zu sagen, des war nicht gut. Sebastian, du tust jetzt anrufen und gibst Bescheid. Vielleicht tun sie euch schon suchen. Man läuft net einfach so davon.«
Die Bichler Kinder gingen erst einmal hinein.
»Sei nicht so streng mit ihnen, Toni. Du weißt doch, wie sehr gerade der Basti an deinem Vater hängt. Er liebt ihn wirklich, wie einen richtigen Großvater. Da ist die Enttäuschung groß. Basti gibt sich für sein Alter sehr erwachsen. Aber er ist doch erst zwölf. Er ist ja noch ein Kind. Denke mal daran, wie traurig du gewesen wärst in dem Alter.«
Der alte Alois hatte alles gehört. Er trat neben Toni und legte ihm die Hand auf die Schulter. Schmunzelnd erinnerte er den Hüttenwirt daran, wie oft er sich als Bub zu ihm auf die Berghütte geflüchtet hatte. Also ermahnte Alois Toni, nicht zu streng mit den Kindern zu sein. Außerdem sei die Berghütte ihr Zuhause.
Toni wollte wissen, wie der Alois das damals gemacht hatte, daß seine Eltern niemals eine Suchaktion starteten.
»Ich habe mit den Hüttengästen geredet – heimlich natürlich –, daß du nix merken tust. Diejenigen, die abends runter nach Waldkogel sind, die haben deinen Eltern einen Zettel von mir gebracht.«
Dann erfuhr Toni noch, daß der alte Alois teilweise sogar die Bergwacht dazu benutzte, seinen Eltern die Nachricht zukommen zu lassen. Damals hat es noch kein Telefon auf der Berghütte gegeben. Die Berge wurden von Mitarbeitern der Bergwacht regelmäßig mit dem Fernglas abgesucht. Besonders in der Dämmerung konnten verunglückte Bergsteiger mit Lampen Hilfe herbeiholen. Dann ließen sie ihre Taschenlampen in Abständen aufblinken. Der alte Alois traf mit der Bergwacht eine Vereinbarung. Besondere Lichtsignale zeigten an, daß sich der kleine Antonius Baumberger, der von allen nur Toni gerufen wurde, auf der Berghütte aufhielt und damit in Sicherheit war.
»Des war ja ganz schön raffiniert von dir, Alois. Davon habe ich nix gewußt.«
»Des war auch der Sinn der Sache. Wenn du mir dein kleines Kinderherz ausgeschüttet hattest, bist ja freiwillig wieder heim. Du hast auch manchmal drunter gelitten, daß dein Vater und deine Mutter wenig Zeit für dich hatten.«
Toni seufzte. Ja, er erinnerte sich. Es gab Zeiten, da schmollte er oft. Als Bub besuchte er den Alois und seine Frau mindestens einmal in der Woche auf der Berghütte.
»Du solltest mit dem Basti darüber reden, Toni«, riet ihm Anna. »Erzähle ihm, wie das damals bei dir war. Außerdem müssen wir hier wirklich darauf achten, daß wir den beiden Kindern genügend Zeit widmen.«
Toni hauchte Anna einen Kuß auf die Wange.
»Bist eine kluge Frau! Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Das weiß ich nicht. Aber du solltest deine Eltern anrufen. Nicht nur, um das Fortlaufen der Kinder zu klären. Wenn die Unterholzer das ganze Lokal und alle Fremdenzimmer mieten wollen, dann planen sie ein großes Fest. Vielleicht brauchen deine Eltern Hilfe.«
»Stimmt! Außerdem bin ich auch ein bisserl neugierig. Des gebe ich zu.«
Während Toni im Wohnzimmer der Berghütte mit seinen Eltern telefonierte, kümmerte sich Anna in der Küche um die Kinder. Sie kochte ihnen Karamelpudding. Warmer Karamelpudding gehörte zu den Lieblingsessen der beiden. Anna genoß es, die beiden zu verwöhnen. Ihre Ehe mit Toni war noch kinderlos. Anna und Toni liebten die Bichler Kinder, als wären sie ihre eigenen. Besonders Anna ging in der fürsorglichen Mutterrolle auf.
Es dauerte eine Weile, bis Toni kam. Er berichtete, daß es wirklich der Unterholzerbauer mit seiner Frau war. Die beiden planten zum fünfzigsten Geburtstag von Ernst Unterholzer ein großes Fest.
Es war nicht nur der runde Geburtstag, zu dem sie die ganze Verwandtschaft und Freunde einladen wollten. Die beiden feierten in den nächsten Tagen Silberhochzeit. Diese wollten sie alleine begehen. Beim Pfarrer Zandler hatten sie einen Dankgottesdienst bestellt. Weil Ernst kurz darauf diesen runden Geburtstag hatte, legten sie die Feier zusammen. Es sollte schon etwas Besonderes werden, sagten die beiden. ›Zum Ochsen‹, dem vornehmen Restaurant und Hotel, wollten sie nicht. Es sollte rustikal und trotzdem anspruchsvoll sein. Es kam ihnen besonders darauf an, daß keine weiteren Fremden zu Gast waren. Sie wollten unter sich sein, berichtete Toni.
»Ein bisserl seltsam finde ich des schon, Toni«, bemerkte Anna, »bei so einem runden Geburtstag und Fest die Nachbarn auszusperren.«
Der alte Alois schmunzelte.
»Der Ernst Unterholzer ist ein gerissener Fuchs. Er weiß schon, wie er sich Ärger vom Hals halten tut. Vielleicht würde ich es an seiner Stelle genauso machen.«
Toni, Anna und Alois zogen sich in die Küche zurück. Anna wusch das Geschirr. Toni trocknete ab. Der alte Alois saß am Küchentisch, die Hände auf seinen Spazierstock gestützt, den er zwischen den Knien auf den Boden stützte.
Dann erzählte der alte Hüttenwirt