Matrix-Liebe. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783947612765
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wenn er sich kooperativ zeige. Man wisse von seinem Kontakt zu einem Subjekt Namens Morpheus, der bei den meisten Behörden der Welt ganz oben auf den Fahndungslisten rangiert. Alles, was Neo zu leisten habe, sei Unterstützung beim Aufspüren des Terroristen – im günstigsten Fall könnte dies einen kompletten Straferlass bedeuten, einen »neuen Anfang«.

      Im Folgenden ist es nicht nur überraschend, dass Neo diesen „vernünftigen“ Vorschlag zurückweist, sondern auch die Art und Weise, wie er es tut. Abgesehen vom Mittelfinger, den er Smith präsentiert, ist es vor allem die bestimmte Art, mit der er auf seine Rechtskenntnis verweist und einen Anwalt zu sprechen verlangt. Ist dies die Naivität eines weltfremden Idealisten? Immerhin hat Neo doch gerade selbst gesehen, dass die Gegenseite Beweise für seine Computerkriminalität besitzt, und in Anbetracht der Rechtslage müssten ihm die harten Strafen, die ihm drohen, nur all zu deutlich vor Augen stehen.

      Warum also knickt Neo nicht ein, sondern bedeutet Smith, dass dieser ihn mit seiner »Gestaposcheiße« nicht einschüchtern könne? Die beste Erklärung lautet, dass Neo in irgendeiner Weise auf diese Situation vorbereitet war, sprich, nicht nur auf Ebene der Gesetzestexte, sondern in Form eines konkreten Planes für den schlimmsten denkbaren Fall, wie er jetzt eingetreten ist. Zwei Personen könnten für diesen „Notfallplan“ eine Rolle spielen, nämlich einmal Neo selbst, dann aber auch sein Vorbild Morpheus.

      Beginnen wir mit Neo: die Dokumente im Sammelordner von Smith weisen eine eigenartige inhaltliche Diskrepanz auf (im englischen Wikipediaeintrag zu Neo wird diese nicht nur angesprochen, sondern auch mittels screenshots demonstriert). Sein Pass zeigt nämlich das Geburtsdatum 13.9.1971, sein Führungszeugnis jedoch den 11.3.1962 – eine Diskrepanz von gut 9 Jahren (bezogen auf den Schauspieler wäre das zweite Datum realistischer; Keanu Reeves wurde 1964 in Beirut geboren. Für die Filmhandlung favorisieren wir aber erstgenanntes Geburtsjahr, halten Neo also für einen Mittzwanziger). Eine witzige Erklärung wäre, dass Neo selbst hierfür verantwortlich ist: möglicherweise sind ihm zwecks Sabotage seiner behördlichen Registrierung schon allerlei Hackereinbrüche gelungen. Es könnte also sein, dass Smith’ Dokumente mit irreführendem Unsinn durchsetzt sind, so dass ihnen im Prozessfall die juristische Beweiskraft abginge. Und hier wiederum kommt Neos nächtliche Beschäftigung mit dem Phänomen Morpheus hinzu: sie könnte ihm ein sehr spezielles Wissen erschlossen haben, welches im Ernstfall gegen die ermittelnden Behörden einsetzbar ist – etwa Sonderkenntnisse über illegale Überwachungsmethoden und routinemäßig gefälschte Beweise. Letztendlich wäre dies der Grund, warum Neo Morpheus zu verehren gelernt hat: nämlich als idealismusgetriebenen Gegner eines hochkriminell agierenden Staates.22

      In diesem Zusammenhang lohnt es sich, an die ersten Szenen in Neos Bude zurückzudenken, sprich, an die Nachrichtenseiten, die über eine vergebliche Jagd auf den Terroristen Morpheus berichten, wie sie am Flughafen Heathrow stattgefunden haben soll. Wenn der Zuschauer später erfährt, was die Matrix ist, so muss er sich bald fragen, wie viele Matrizianer angeschlossen sind und wie groß eigentlich die virtuelle Welt ausfällt, in der sie sich bewegen (vgl. auch Watson 2003, S.131f.). Gibt es eine „Maximalsimulation“, in der wirklich die gesamte Erde mit einer Milliardenpopulation abgedeckt wird (Smith wird später von »billions of people living out their lives« reden), oder war die Zahl der Kriegsverlierer am Ende der globalen Katastrophe so klein, dass sie auch mit der anschließenden künstlichen Nachzucht eine Millionenzahl nicht überschreitet? Wenn letzteres der Fall ist, so könnte der Chicago/Sydney-Verschnitt, in dem Neo lebt (und der den Agenten vom Architekten, der seine Diener ebenfalls im Unklaren lässt, als Operationsgebiet zugewiesen wurde) schon die ganze Matrixwelt sein. Dann aber wären alle Nachrichten aus anderen Teilen der Welt – wie etwa Flughafen Heathrow – vom System gefälscht, und Morpheus könnte seiner Hackergemeinde überzeugende Beispiele für derartige Manipulationen angeboten haben (ohne freilich genau zu verraten, von welcher Wahrheit all diese Fälschungen ablenken sollen).

      Man darf also über eine lange Reihe von Gründen spekulieren, die Neos renitente Haltung verständlich, ja sogar vernünftig erscheinen lassen, und seine Forderung nach einem Anwalt stellt den angemessenen Abschluss dar. An diesem Punkt angelangt, kippt jedoch die Situation – die Verhörszene bedeutet von jetzt an eine neue Steigerungsstufe, wenn es darum geht, den noch „ahnungslosen“ Zuschauer zu verunsichern. Durfte dieser sich zu Beginn über die ungewöhnlichen Fähigkeiten wundern, welche Trinity und der auf sie angesetzte Agent zeigen, so endet das Verhör in einem verstörenden body horror (Neos Lippen und Mundöffnung verschwinden, und eine an eine bizarre Insektenlarve erinnernde Abhör- beziehungsweise Trackervorrichtung23 wühlt sich in seinen Körper). Diesmal aber wird ein einfacher Ausweg aus den gezeigten „Unmöglichkeiten“ offeriert, indem Neo zuhause aus dem Schlaf aufschreckt und ebenso wie der Zuschauer glauben muss, dass sein Erlebnis auf dem Polizeirevier – genauer gesagt das bizarre Ende dieses anfänglich realen Geschehens – nur ein Alptraum war. Viel Zeit bleibt ohnhehin nicht, um die Grenze zwischen der wirklich erlebten Vernehmung und der geträumten „Verwanzung“ festzulegen, denn gleich darauf klingelt Neos Telefon, und wieder – also genau wie schon morgens auf seiner Arbeitsstätte – ist Morpheus am Apparat, der Neo dringend rät, sich nach draußen in den nächtlichen Regen zu begeben und an der Adams Street-Brücke auf seine Leute zu warten.

      Im Verlauf dieses Treffens wird Neos Glaube, schlecht geträumt zu haben, auf schockierende Weise widerlegt: er hat tatsächlich ein biomorphes Überwachungssystem im Körper, das von Trinity entfernt und aus dem Autofenster hinaus auf die Straße geschleudert wird. Neos entsetzter Aufschrei »Das war ja doch kein Traum!« muss sich unweigerlich in der Wahrnehmung des Zuschauers festsetzen: Alle Erlebnisse beim Verhör, besonders aber der alptraumhafte Verlauf der Verwanzung, waren real. Neos Realitätsbild muss so stark erschüttert sein, dass er nunmehr bereit ist für die Begegnung mit Morpheus: bereit, die Wahrheit über das zu erfahren, was als „Matrix“ schon gerüchteweise im Raum stand. Dem Zuschauer geht es gewiss nicht anders, während der Film auf diesen nächsten Höhepunkt der Handlung zusteuert – ebenso wie Neo ist es ihm nicht mehr möglich, eine klare Grenze zwischen Realität und „Wahn“ zu definieren.24

      Doch lassen wir Neos Aufklärung im Hotelzimmer hier noch beiseite und fragen uns, ob wir bei seiner „Entwanzung“ im Auto wirklich lernen mussten, dass seine Erlebnisse im Verhörraum „echt“ waren. Denkt man genauer über den Verlauf der Dinge nach – vor allem, nachdem man über die Matrix und die Funktion der Agenten Bescheid weiß – treten hier mindestens zwei Probleme auf, die mit den potenziellen Fähigkeiten der Agenten zusammenhängen. Ist Agent Smith höchstpersönlich in der Lage, die (Bio)-Physik der Matrix zu ändern, als Neo die Zusammenarbeit verweigert und ein Telefongespräch mit seinem Anwalt verlangt? Kann Smith genau in diesem Augenblick Neos virtuellen Körper angreifen und dessen simulierte Anatomie verändern? Dies wäre ein erstaunlicher Eingriff in die „Naturgesetzlichkeit“ der Matrix. Kennt man Teil zwei der Trilogie, könnte man die Bildsprache der allerersten Verhörraum-Einstellung als Hinweis darauf verstehen, dass Smith tatsächlich über diese Macht verfügt: der wartende Neo wird in einer Art „Ommatidien-Optik“ gezeigt; man sieht ihn auf einer Vielzahl von Bildschirmen, wie durch das Facettenauge eines Insekts (vielleicht ein Filmzitat: der Chimären-Horror The Fly von 1958). In Reloaded lernen wir, dass dies ein bildästhetischer Vorgriff auf jenen Raum war, in dem Neo mit dem Architekten der Matrix zusammentrifft – in beiden Szenen werden z.B. auch Kamerafahrten durch die Monitore genutzt, um kurz die vertikalen Matrixcodereihen aufscheinen zu lassen. Der Architekt scheint also dem in Teil 1 stattfindenden Verhör beobachtend beizuwohnen, und mit seiner „Autorisierung“ könnte die erschreckende Machtfülle, die während der body horror-Sequenz vom höhnisch lächelnden Smith ausgeht, möglich werden. Auch im späteren Verlauf von Teil 1 lernen wir ja, dass die Agenten „taktische“ Veränderungen an der Matrix vornehmen können, wenn sie Gefährder jagen (die Szenen, in denen Morpheus & Co. aus Fenstern entkommen wollen und dabei von Mauerwerk gestoppt werden, welches sich vorher nicht dort befand). Da es zentrale Aufgabe des Architekten ist, die Matrix vor dem Zusammenbruch zu schützen, muss er den Agenten zumindest zeitweilig auf diese Art helfen: entweder, indem er die nötigen Veränderungen selbst vornimmt und die Agentenprogramme hierüber informiert, oder, indem