»Als ich mehr darüber las und immer tiefer in die Materie Einblick bekam, nannte ich sie auch nicht mehr Monster, sondern Mythenwesen. Denn jedes hatte seine Besonderheiten. Verstehst du, was ich meine?«
Sie entspannte sich erleichtert. »Ich denke schon.«
Kapitel 6
Nachdem sie sich noch eine Weile unterhalten hatten, verabschiedete sich Diana von dem immer interessanter werdenden Mann und fuhr zu ihrer Hexenfreundin.
Sie betrat das Grundstück des Covens und klopfte an die große Holztür. Es öffnete Helena die Vielsichtige. Diesen Namen hatte sich die Hexe in den letzten Jahrhunderten wahrlich verdient. Ab und an hatte sie Visionen – vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Dann hielt sie plötzlich inne und ihre Augen wurden trüb. Leider war es meist nicht angenehm, wenn Helena sah, wer ihr ihr Eis weggegessen hatte oder wer gerade im Begriff war, unerlaubt in ihrem Schrank nach Kleidung zu suchen. Aber dies waren nur die harmlosen Dinge, denn leider hatte die Hexe auch die Prophezeiung bestätigt. Sie ließ die Tatsachen im Dunkel, aber sie beharrte darauf, dass diese eintreten würde.
»Hallo Diana, was verschlägt dich heute zu uns? Soviel ich weiß, tickt deine Uhr schon.«
»Was meinst du damit?«
»Also, wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, wurde die Prophezeiung in Gang gesetzt. Ich bin ja schon so gespannt auf den Ausgang.« Sie schmollte etwas. »Leider liegt das Endergebnis des Ganzen in einem dichten Nebel verborgen. Ich kann es einfach nicht sehen. Ich spüre nur, dass es etwas Großes ist.«
Nun war es an Diana, das Gesicht zu verziehen. »Vielleicht mache ich ja doch nicht mit bei diesem vorsintflutlichen Mist.«
Helena trat einen Schritt auf sie zu und legte ihre Hand an Dianas Wange. Ihre Gesichtszüge erstarrten, während sich ihre Pupillen trübten. »Diana, Tochter der Lillith, Befehlshaberin der Vampire, alte Seele der Mythen, dein Weg ist gewählt, dein Schritt ist getan, du wirst ihn dir nehmen und sein Tod wird der Prophezeiung Erfüllung sein.« Der Körperkontakt brach ab und Helena winkte Diana durch, als wäre nichts gewesen. »Clare ist im Esszimmer.«
Verwirrt lief Diana an ihr vorbei und suchte ihre Freundin. »Clare!«
»Wir sind hier. Komm einfach rein. Wir bereiten gerade die Opfergaben für morgen vor.«
Das bedeutete, dass der komplette Esstisch von Nahrungsmitteln übersät war. Es gab Obst, Getreide und Gemüse. Sie waren gerade dabei, alles auf Platten und Gebinden herzurichten.
Die sommersprossige Hexe kam breit grinsend auf sie zugerannt. »Ich freu mich so auf morgen.«
»Ja, ist ja gut. Ich mich auch.«
»Hm, du machst mir aber nicht unbedingt den Eindruck, als ob es so wäre. Was ist denn los?«
»Was los ist? Wo soll ich da anfangen? Ist es der Mitternachtssnack, der mir den Kopf verdreht? Ist es Helena, die mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt? Oder der Umstand, dass Mister Zwischenmahlzeit sehr gut über die Mythenwelt Bescheid weiß?«
»Er weiß über uns Bescheid?«
»Er hat wohl viel über uns gelesen. Ich denke nicht, dass er sein Wissen über uns aus Schundliteratur hat. Und außerdem wohnte ein Werwolf neben ihm.«
Clare schaute sie fragend an. »Hä?«
Diana musste herzlich lachen und es wurde ihr wieder etwas leichter ums Herz.
Kapitel 7
Stunden später fuhr Diana mit den Mitgliedern des Covens zu deren Lichtung der Riten. Dies war ein tief im Wald gelegener Ort. Es handelte sich um einen freien Platz, umgeben von hohen Bäumen mit dichtem Blätterwerk. Dort bauten sie unter Einsatz von Magie eine Art Thron aus Astgeflecht und schmückten diesen ringsum mit ihren Opfergaben. Zudem ließen sie Feuerstellen erscheinen, die etwas weiter entfernt einen Kreis um die Zeremonienstelle bildeten. Zum Abschluss der Vorbereitungen für die morgige Nacht sprachen sie gemeinsam einen Verbergezauber aus, damit kein Außenstehender den Ort entdecken konnte.
Auf der Rückfahrt herrschte ein reges Gemurmel auf den Sitzbänken des Kleinbusses. Alle Hexen freuten sich bereits auf das Kommende, nur Diana war nicht ganz bei der Sache.
Kaum waren sie wieder an der mythischen Wohngemeinschaft angekommen, verabschiedete sich Diana, stieg in ihren Sportwagen und machte sich auf den Weg in ihr pompöses Heim.
Wie sehr sehnte sie doch den Wechsel herbei. Ihr Wunsch nach Nichts wurde immer stärker. Sie wollte keine Schirmherrin für alle anfallenden Orgien mehr sein. Einfach nur mitmachen und gehen. Nichts mehr. Sie wollte den Thron besuchen, aber nicht auf ihm sitzen und die Befehlshaberin sein. Nichts kommandieren. Sie wollte auch nicht der Mittelpunkt einer undeutlichen Prophezeiung sein. Nichts sollte Macht über sie haben.
Nichts. Nichts. Nichts.
Aber nicht sie schrieb ihr Schicksal, das schienen andere zu tun. Wobei sie nicht schlecht Lust hätte, diesen Schreiberlingen die Finger zu brechen.
Kapitel 8
Als Diana an diesem Nachmittag erwachte, versuchte sie, ihre negativen Gedanken vom Morgen unter einer warmen Dusche abzuwaschen. Sie schäumte das wohlriechende Duschgel auf ihre Haut auf und ließ es vom Wasser aus den Düsen abwaschen. Danach stand sie, ihren Kopf leicht in den Nacken gelegt, unter der Vielzahl der dünnen Wasserstrahlen und genoss die Ruhe und die Schwärze in ihren Gedanken. Viel zu schnell würde sie wieder in die Realität zurückgleiten. Doch plötzlich tauchten blaue Augen im Dunkel ihrer Gedanken auf.
»Scheiße«, fluchte sie und stieg aus ihrer flachen Duschwanne.
Diana bereitete sich weiter auf den Abend vor. Halloween war die Nacht der Hexen. Wobei es zwischen Clare und ihr ein Insiderscherz war, es Hell-Oween zu nennen, da schließlich in dieser Nacht ein Dämon beschworen werden sollte.
Sie trug Highlighter auf Wangen, Brüste, Schultern, Venushügel und Oberschenkel auf. Heute Nacht wollte sie im Mondlicht glitzern.
Sie hatte von der menschlichen Vorstellung gehört, Vampire würden im Sonnenlicht wie Diamanten funkeln und wunderschön aussehen. Sorry, aber Diana wollte kein Selfie von sich, wenn sie bei Tageslicht auf die Straße ginge. Das Einzige, was man bei ihr begutachten könnte, waren ihre zusammengekniffenen Augen und ihr schräg verzogenes Gesicht. Sie konnte zwar hinausgehen, aber die Strahlen der hellen Sonne gingen direkt durch ihren Augapfel in ihr Gehirn und verursachten Kopfschmerzen wie bei einem Völlereikater.
Nichtsdestotrotz grinste sie zufrieden ihrem Spiegelbild entgegen. Sie zog sich einen weiten schwarzen Jumpsuit über, durchwühlte ihr dunkles Haar und machte sich auf den Weg.
Als Diana an der Lichtung angekommen war, entledigte sie sich hinter einem Gebüsch ihres Jumpsuits und sprang behänd auf eine hohe, stabile Astgabelung, um von dort das Treiben zu beobachten.
Kurz darauf erschienen ihre Hexenfreundinnen. Ihre Schritte waren so erhaben, dass sie über das Gras zu schweben schienen. Alle hatten Neckholder-Kleider an und hielten eine Art Figur in der Hand, die sie an ihren Busen drückten. Diana war gespannt darauf, was dieses neue Accessoire zu bedeuten hatte. Die Frauen bildeten einen Kreis um das Throngeflecht, drehten sich zu den Feuerstellen, stellten die Figuren auf die Erde und erhoben die Arme. Dies führte dazu, dass ringsherum plötzlich Flammen aufloderten. Danach griff sich eine Jede an die Schleife im Nacken und im nächsten Moment glitten die dünnen Kleider zu Boden. Ein weiterer Handgriff öffnete ihre Zöpfe und befreite das lange Haar der nackten Frauen, sodass es ihnen über den Rücken fiel.
Es war bereits ein bezaubernder Anblick, diese nackten, wunderschönen Wesen anzuschauen. Aber nun, da glattes oder gelocktes, blondes, schwarzes, rotes oder braunes Haar ihre Körper umschmeichelte, war es mehr als magisch.
Eine der drei Ältesten erhob ihre Arme in Richtung Sternenmeer und stimmte einen Singsang an, die restlichen Covenmitglieder schlossen sich an.
Diana