Dracula. Bram Stoker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bram Stoker
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159616995
Скачать книгу
geraten, und unter was für Leute? Auf was für ein grausiges Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? Man hatte mich losgeschickt, einem Fremden, der ein Londoner Grundstück erwerben wollte, ein geeignetes Objekt zu erläutern – nicht unüblich in meinem Metier. Aber lag das hier noch im Rahmen der normalen Tätigkeiten eines Anwaltsgehilfen? Oha, eben hätte mir Mina wohl einen Verweis erteilt, weil ich mich selber kleinmache. Nicht ›Anwaltsgehilfe‹ – ›Anwalt‹! Kurz bevor ich London verließ, erhielt ich nämlich die Nachricht, dass ich mein Examen bestanden habe; ich bin also jetzt ein richtiger Anwalt. Ich rieb mir die Augen und zwickte mich, um festzustellen, ob ich wach war. Mir kam dies alles vor wie ein grässlicher Albtraum; so etwas befällt mich gelegentlich, wenn ich tagsüber zu viel arbeite. Gleich würde ich, so meine Vermutung, daheim aufwachen und das Morgendämmerlicht durch die Fenster hereinsickern sehen. Aber meine Haut spürte das Zwicken. Ich war also wach und befand mich tatsächlich in den Karpaten. Jetzt konnte ich mich nur noch in Geduld fassen und den Morgen abwarten.

      Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, hörte ich von jenseits des gewaltigen Tores einen schweren Schritt. Er kam näher, desgleichen ein Licht, dessen Schein ich durch die Ritzen sah. Dann klirrten Ketten, und massive Riegel wurden zurückgeschoben, dass es nur so schnarrte und klackte. Ein Schlüssel drehte sich laut quietschend im offenbar selten benutzten Schloss, und das mächtige Tor schwang auf.

      Im Eingang stand ein hochgewachsener alter Mann, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, nicht den kleinsten Tupfer einer anderen Farbe an seinem Gewand. Er trug einen langen weißen Schnurrbart, sonst war er glatt rasiert. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe. Die Flamme, die auf ihr brannte – ohne Zylinder oder Kugel, also ohne jeden Glasschutz –, warf in der Zugluft des offenen Tores gedehnte, zitternde Schatten. Mit einer höflichen Geste seiner rechten Hand bat mich der alte Mann hinein und sagte dabei in vortrefflichem Englisch, bei dem nur der starke Akzent den Fremdling verriet: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie aus freien Stücken und aus eigenem Antrieb ein!«

      Er kam mir nicht einen Schritt entgegen, sondern verharrte starr wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn versteinert. Kaum aber war ich über der Schwelle, trat er schwungvoll auf mich zu, streckte seine Hand aus und packte meine mit einer Kraft, die mich zusammenzucken ließ in einem Erschrecken, das auch nicht durch die Tatsache gemildert wurde, dass sich seine Hand eiskalt anfühlte, mehr wie die Hand eines Toten als eines Lebendigen. Wieder sagte er: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie frei herein, kehren Sie sicher heim, und lassen Sie ein wenig von der Freude hier, welche Sie bringen!« Die Heftigkeit des Händedrucks erinnerte mich dermaßen an den eisernen Klammergriff des Kutschers – dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte –, dass ich einen Moment glaubte, der Fahrer und der Herr, zu dem ich jetzt sprach, sei ein und dieselbe Person. Um sicherzugehen, fragte ich also: »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte: »Ich bin Dracula und heiße Sie willkommen in meinem Hause, Mr. Harker. Treten Sie näher; die Nachtluft ist kühl, und Sie sind gewiss hungrig und müde.«

      Während er dies sprach, setzte er die Lampe auf eine Konsole an der Wand, ging nach draußen und holte mein Gepäck. Ehe ich ihn zu hindern vermochte, hatte er es schon hereingetragen. Ich wand ein, das könne ich doch selber tun, doch er insistierte: »Nein, Sir, Sie sind mein Gast. Es ist spät, und meine Dienstboten sind nicht mehr verfügbar. Lassen Sie mich getrost selbst für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Kein Protest half; er schleppte tatsächlich meine Koffer durch den Gang, dann eine breite Wendeltreppe hoch, schließlich durch einen langen Korridor, dessen Steinfußboden unsere Schritte besonders laut widerhallen ließ. Am Ende des Ganges stieß er eine schwere Tür auf, und ein erfreulicher Anblick bot sich: ein hell erleuchteter Raum, darin ein gedeckter Esstisch und ein mächtiger Kamin, in dem ein Feuer über frisch aufgelegten Holzscheiten flammte und flackerte.

      Der Graf blieb stehen, setzte mein Gepäck ab und schloss die Tür. Dann schritt er durch den Raum und öffnete eine zweite Tür. Dahinter lag ein kleiner achteckiger Raum, in dem nur eine Lampe brannte und der offenbar keinerlei Fenster besaß. Wir ließen auch diesen hinter uns, der Graf öffnete eine weitere Tür und hieß mich eintreten. Wieder ein willkommener Anblick: ein großes Schlafzimmer, ebenfalls hell erleuchtet und warm beheizt von einem Kaminfeuer. Auch hier hatte man das Holz erst vor kurzem gerichtet, denn die obersten Scheite brannten noch nicht. Dumpf dröhnte das Geprassel in dem weiten Rauchfang wider. Der Graf trug erneut persönlich mein Gepäck hinterher und zog sich dann zurück, sagte aber noch, eher er die Tür schloss: »Sie hatten eine anstrengende Reise; da werden Sie sich frischmachen und umziehen wollen. Ich bin sicher, Sie finden hier alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in das andere Zimmer; dort erwartet Sie Ihr Abendessen.«

      Das Licht, die Wärme und der höfliche Willkommensgruß des Grafen zerstreuten fürs erste all meine Zweifel und Ängste. Nachdem ich meine normale Geistes- und Seelenverfassung wiedererlangt hatte, fühlte ich mich plötzlich halbtot vor Hunger. Ich beeilte mich also mit meiner Toilette und ging rasch hinüber ins andere Zimmer.

      Das Souper war, wie ich bemerkte, schon aufgetragen. Mein Gastgeber stand neben der großen Feuerstelle, ans Gesims gelehnt, und wies verbindlich zum Tisch hin: »Ich bitte Sie, nehmen Sie doch Platz und essen Sie nach Herzenslust. Sie entschuldigen hoffentlich, dass ich nicht mithalte. Aber diniert habe ich bereits, und soupieren bin ich nicht gewohnt.«

      Mir fiel der Brief ein, den Mr. Hawkins mir für Graf Dracula mitgegeben hatte. Ich überreichte ihm das versiegelte Schreiben. Er öffnete es und las die Zeilen ernst und aufmerksam. Dann lächelte er charmant und reichte mir das Blatt. Nun las auch ich, was mein Chef zu Papier gebracht hatte. Eine Stelle begeisterte mich besonders:

      »Gern hätte ich mich selbst zu Ihnen verfügt, wäre da nicht meine Arthritis – ein Übel, das mir ja schon ewig zu schaffen macht. Eine neuerliche Gichtattacke verbietet mir leider für die nächste Zeit jeden Gedanken an eine Reise. Zum Glück aber kann ich Ihnen einen gleichwertigen Vertreter senden, der mein absolutes Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, energisch, einzigartig talentiert und von seinem ganzen Wesen her gewissenhaft und loyal. Auch Diskretion und Verschwiegenheit kennzeichnen ihn, wie ich aus jahrelanger Erfahrung weiß: er ist in meinen Diensten zur Mannesreife erwachsen. Er wird Sie während seines Aufenthaltes in jeder Hinsicht beraten und all Ihre Anweisungen entgegennehmen.«

      Der Graf trat selbst zum Tisch und hob den Deckel einer Schüssel. Darunter lag ein prächtiges Brathuhn. Sofort machte ich mich darüber her, desgleichen über die anderen Sachen, die zusammen mit dem Geflügel mein Abendessen bildeten: etwas Käse, ein Salat und eine Flasche alten Tokaiers, von dem ich zwei Glas trank. Während ich speiste, stellte mir der Graf eine Menge Fragen zu meiner Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach all meine Erlebnisse.

      Schließlich hatte ich fertiggegessen. Mein Gastgeber bat mich, mir einen Stuhl zu holen und mich vor das Feuer zu setzen. Er bot mir eine Zigarre an, und ich rauchte sie. Nein, er selbst rauche nicht, entschuldigte er sich. Nun hatte ich Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten, und fand, dass er ein mehr als markantes Äußeres besitzt.

      Das Gesicht: adlerähnlich, sehr sogar, nicht zuletzt dank einer kräftigen Nase mit scharf gebogenem Rücken und seltsam geschwungenen Nüstern. Die Stirn hoch und gewölbt; das Haar an den Schläfen dünn, sonst aber voll. Die sehr dichten Augenbrauen wachsen über der Nasenwurzel fast zusammen und scheinen sich vor lauter Buschigkeit zu kräuseln. Der Mund – soweit unter dem mächtigen Schnurrbart sichtbar – starr und von beinahe grausamem Ausdruck; die weißen Zähne wirken scharf und ragen über die Lippen, deren bemerkenswerte Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann seines Alters bekunden. Die Ohren dagegen farblos und oben extrem spitz; das Kinn breit und kräftig; die Wangen fest, aber mit wenig Fleisch bedeckt. Die Haut ganz allgemein außerordentlich blass.

      Von seinen Händen, die auf seinen Knien lagen, hatte ich bisher nur die Rückseiten wahrgenommen. Im Widerschein des Feuers waren sie mir recht weiß und feingliedrig vorgekommen. Jetzt aber, da ich sie aus der Nähe beschaute, musste ich feststellen, dass sie eher grob waren, mit breiten, platten Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm auch auf den Handinnenflächen Haare. Die Nägel waren lang und schmal und spitz zugefeilt. Als sich der Graf einmal zu mir herbeugte und seine Hände mich berührten, schauderte es mich unwillkürlich. Vielleicht hatte er auch unreinen Atem; jedenfalls durchlief mich eine Welle von