1.5Der judenfeindliche Diskurs des Hellenismus
In hellenistischer Zeit nahmen die antijüdischen Stimmungen ihren Ausgang erneut in Ägypten. Im Kontext der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische („Septuaginta“) tauchten seit dem 3. Jh. in Ägypten erstmals Versionen auf, welche die Anwesenheit der Hebräer sowie den in der Bibel geschilderten Auszug der Juden aus Ägypten antisemitisch interpretierten, sich hierfür der Methode der Pathologisierung bedienten und den zum „Fremden“ Konstruierten mit ansteckenden Krankheiten in Verbindung brachten. Die Juden erschienen in diesen antisemitischen Exodus-Deutungen als „Unreine“, denen man sich habe entledigen müssen, da sie die „eigene Bevölkerung“ mit einer Krankheit infiziert hätten. Diverse Narrative, die mit der Behauptung aufwarteten, die Juden seien aus Ägypten vertrieben worden, weil sie eine gefährliche Seuche verbreitet hätten, wurden in hellenistischer Zeit populär. Die Legende findet sich bei Hekataios von Abdera, der um 300 v. Chr. wirkte, in Gestalt der Behauptung, die Juden seien als Lepröse aus Ägypten verjagt worden, um die Bevölkerung vor ihrer Unreinheit zu schützen. In den Schriften des Josephus, der die Darstellung des hellenistischen Geschichtsschreibers Lysimachos referiert, heißt es:
»[Lysimachos sagt], unter dem aegyptischen König Bokchoris [gemeint ist Bakenrenef, dessen Regierungszeit auf ca. 720 bis 716 v. Chr. datiert wird, d. Verf.] sei das mit Aussatz, Krätze und anderen Krankheiten behaftete Volk der Juden in die Tempel geflohen und habe hier um Speise gebettelt. Immer weiter habe die Krankheit sich ausgebreitet, und dazu sei auch noch das Land unfruchtbar geworden. Der König Bokchoris habe nun zu Ammon [gemeint ist das Orakel von Siwa, eine antike Orakelstädte in der westlichsten Oasengruppe Ägyptens, d. Verf.] geschickt, um einen Orakelspruch inbetreff der Unfruchtbarkeit zu erhalten, und es sei ihm von dem Gotte der Bescheid erteilt worden, er solle die Heiligtümer von den unreinen und gottlosen Menschen säubern, diese aus den Tempeln in die Wüste jagen, die Krätzigen und Aussätzigen aber, über deren Dasein die Sonne zürne, ertränken und die Tempel durch Sühneopfer heiligen; dann werde die Fruchtbarkeit des Landes sich wieder einstellen.« (Josephus 1993: 140/141)
Die rassifizierende Pathologisierung existierte folglich bereits in der Antike und stellte ein ideologisches Muster dar, das auch der dt. Nationalsozialismus als Legitimation für die Separierung der Juden in Ghettos als Vorstufe ihrer Ermordung benutzte.
Die antisemitische Grundhaltung war besonders stark ausgeprägt beim hellenistischen Historiographen Manetho, der seine Werke vermutlich in der Regierungszeit von Ptolemaios II. (285–246 v. Chr.) verfasste und laut Josephus die Blasphemisierung benutzte, die den zum Fremden Konstruierten als Gotteslästerer erscheinen lässt. Manetho ließ in seiner Darstellung die Juden nicht nach Ägypten einwandern, sondern vielmehr »zu Zehntausenden in Ägypten einfallen«. Die Juden hätten die Herrschaft über die Einheimischen erlangt und ihre Göttertempel dem Erdboden gleichgemacht. Die Juden konstruierte Manetho als eine Personengruppe, die fremde Religionen missachtet und fremden Göttern Schmach antut. Die Juden stellten für Manetho „Feinde der Götter“ dar, er bezeichnete sie gar als Gottlose („Atheoi“). Mose habe den Juden einen Eid abgenommen, der diese dazu verpflichtet habe, die Gottheiten der Ägypter abzulehnen und heilige Tiere als Opfer zu schlachten. Zwecks Diffamierung der Juden griff Manetho auf diese Weise den schon vom „Tatort Elephantine“ her bekannten Konfliktstoff auf. Das Narrativ der Blasphemisierung benutzten ebenso etliche weitere hellenistische Geschichtsschreiber. Lysimachos behauptete, den Juden sei es auferlegt worden, fremde Tempel und Altäre zu zerstören, auch er bezeichnete die Juden als „Atheoi“. Die Funktion des Narrativs der Blasphemisierung verdeutlicht Apion, der Verfasser einer mehrbändigen Geschichte Ägyptens, insofern er den Erhalt voller Bürgerrechte für die alexandrinischen Juden mit der Begründung negierte, diese lehnten die ägyptischen Gottheiten ab. Auch bei Plinius dem Jüngeren zeichnen sich die Juden durch ihre Götterverachtung aus. Um den Kult der Juden zu verhöhnen, stellten diverse hellenistische Schriftsteller die Behauptung auf, diese beteten einen Esel bzw. einen goldenen Eselskopf an. Während es sich bei den früheren Varianten der Erzählung vermutlich um ein interkulturelles Missverständnis handelte, diente die Unterstellung seitens der seleukidischen Elite der Diffamierung der Juden.
Als dritte Rassifizierungstechnik war in hellenistischer Zeit die Misoxenisierung bzw. die Misanthropisierung weit verbreitet, die den Juden unterstellte, diese hassten ihre Mitmenschen, würden sich von ihnen absondern und seien gegenüber allen Fremden feindlich eingestellt. Diese Absonderung sei ihnen, so diverse Autoren, von Moses auferlegt worden. Hekataios begründete den vermeintlichen Menschenhass mit der Austreibung aus Ägypten, welche die Juden tief verbittert und zu Menschenfeinden gemacht habe. Immer wieder wurden die Juden ebenso für die Einhaltung der Sabbatruhe verunglimpft. Der Sabbat sei eingeführt worden, so hieß es, da die Juden während ihrer Wanderung in der Wüste unter Leistengeschwüren gelitten und sich so eine Ruhepause verordnet hätten. In anderen Versionen wurde der Sabbat auf die vermeintliche Faulheit der Juden zurückgeführt, die keinerlei Interesse an körperlicher Arbeit zeigten. Das Stereotyp vom körperlich ungeeigneten wie an Arbeit desinteressierten Juden kursierte von da an in vielfältigen Varianten durch die Jahrhunderte. Neben der Sabbatruhe war vor allem die Zirkumzision Gegenstand vielfältiger Angriffe sowie das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch.
Die vierte Rassifizierungstechnik in hellenistischer Zeit ist die Kannibalisierung, die ebenso wie die Pathologisierung, Blasphemisierung und Misanthropisierung von nachhaltiger Wirkung war, zumal diese bereits Elemente einer antisemitischen Verschwörungstheorie enthielt. Die diesbezügliche Legende handelte von der Behauptung, die Juden huldigten einem Opferritual, welches von ihnen in zyklischen Abständen die Entführung und Mästung eines Griechen verlange. Das böswillige Gerücht bildete eine der Vorformen der seit Mitte des 12. Jh.s aufkommenden Ritualmordlegende. Bei Flavius Apion findet sich die Erzählung, dass Antiochos IV. Epiphanes, als er in den Jerusalemer Tempel eindrang, dort eine Person antraf, die um seine Hilfe flehte. Es sei ein griechischer Händler gewesen, den Juden ergriffen und eingesperrt hätten, um ihn zu mästen und anschließend aus rituellen Gründen zu schlachten.