Autobahn zurück in die Zukunft
Vorspiel im Festsaal
»Zwanzig Jahre am Puls« stand auf der Einladungskarte. Es war ein herzlicher, würdiger Akt, mit dem der runde Geburtstag des Herzzentrums Hirslanden gefeiert wurde. Das Kongresszentrum Lake Side, direkt am See inmitten des größten Zürcher Parks, gab den gebührenden Rahmen ab. Damen und Herren in Kammgarn, Samt und Seide stießen in einem Frühlingsblumenmeer auf das Erreichte an. Es gab Champagner und Reden zum Thema Medizin im Spannungsfeld von Forschung, Qualität und Ökonomie. Jubiläen seien stets ein Anlass zu selbstbewusster Rückschau und Vorschau, erklärte der Leiter der renommierten Privatklinikgruppe: »Die Bilanzierung des Erreichten formt zusammen mit einem Blick zurück die Gegenwart und gibt die Gestaltung der Zukunft vor.« Wohin das bei jedem Einzelnen führt, ist das nicht eine der Fragen, die sich jeder mal stellt und selten gültig beantworten kann? Eine Frage, die sich einer der Feiernden einmal noch entschiedener als andere gestellt hat. Ohne dass der Name Markus Studer fiel, wandten sich die Blicke des großen Auditoriums verstohlen Richtung rechte vordere Mitte, wo ein stattlicher Herr aufrecht sitzend im dunklen Anzug die Beine übereinanderschlug.
Dann fasste der Redner die Daten und Fakten zusammen: »Kaum ein anderes Ereignis führt den erfolgreichen Werdegang und die heutige Präsenz des Herzzentrums Hirslanden so klar vor Augen wie dieses Jubiläum. Während zweier Dekaden vermochten die Gründer und deren Nachfolger die ursprüngliche Idee eines Kompetenzzentrums für Kardiologie und Herzchirurgie auf einer privatwirtschaftlichen Basis erfolgreich umzusetzen und dem Herzzentrum dank höchstem Engagement und persönlicher Hingabe ein eigenes Gesicht zu verleihen und den Erwartungen von Medizin, Wissenschaft, Betriebsökonomie und Humanität gleichermaßen gerecht zu werden. Heute, nach zwanzig Jahren, zeigt sich das Herzzentrum als führendes und hoch qualifiziertes Unternehmen von beinahe einzigartigem Rang, das insbesondere von Kompetenz und Persönlichkeit gekennzeichnet ist.«
Das Publikum ließ sich die Preisung der Leistung, zu der die meisten persönlich beigetragen hatten, nicht ungern gefallen. Powerpoint rückte eine Reihe von Kurven und Kuchendiagrammen in den Mittelpunkt des Geschehens. Die zugrunde liegenden Zahlen sprechen für sich. Innert kurzer Zeit war das Team der fünf Gründer auf über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Der Redner sagte: »So durften in den letzten zwanzig Jahren über 53 000 Patienten behandelt und 12 269 Herzoperationen, 32 012 Herzkatheteruntersuchungen, 11138 perkutane koronare Interventionen mit 6451 Stenteinlagen sowie 1633 Schrittmacherimplantationen durchgeführt werden.«
Es erging ein Dank an alle, ohne deren Einsatz und Unterstützung eine solche Leistung nie hätte erbracht werden können. Nicht zuletzt an die treuen zuweisenden und weiterbetreuenden Kollegen. Zuallererst indessen an die fünf Herren Doktoren Gründungspartner. Der Redner fuhr fort: »Zu ihnen zählt seit der ersten Stunde der Herzchirurg Markus Studer.« Ein Räuspern, Köpfedrehen und Sesselrutschen ging durch den Saal. »Markus Studer spielte eine entscheidende Rolle in der Embryonalzeit des Zentrums sowie als sein Leiter in den letzten fünf Jahren seiner Tätigkeit.« Auf ein Handzeichen erhob sich der Geehrte. »Seine Leistungen sind nicht hoch genug einzuschätzen. Leider hat er uns nach sechzehn sehr erfolgreichen Jahren verlassen.« Markus Studer schaute in die Runde und verneigte sich mit Schalk im Blick. »Er hat sich vor vier Jahren entschieden …« – und schon ging ein zustimmendes Lachen durchs Auditorium. Applaus dem Helden, der seinem Herzen folgte und seine eigenen Wege ging.
Sonntagabend
Asphaltfresser
»Ich weiß das Datum noch so gut wie meinen Geburtstag. Am 16. Februar 1987 eröffneten wir das erste integrale Herzzentrum in Europa: ein Meilenstein in meinem Leben. Wenn ich noch ein zweites Mal Geburtstag hatte, dann am Tag, als ich in meinen Sattelschlepper umstieg. Am 1. Mai 2003 bin ich Meilenfresser geworden.«
Markus Studer
Eine Fahrt vom Mittelmeer an die Nordsee ist kaum ein Ereignis, aber wenn vor dem Fenster ein Leben vorbeizieht, oder zwei, kann man doch einen Blick darauf werfen, besonders aus der höheren Warte eines Sattelschlepperfahrers. Das Geschirr, wie Markus Studer in nostalgischer Fuhrhalterseligkeit sagt, wartet an einem späten Sonntagabend im April in Lugano-Manno auf uns: hinter Maschendraht, zwischen weitläufigen Lagerhäusern und Siloanlagen im Dunkel des Neumonds. Nichts bewegt sich, auch nicht in der nahen BP-Tankstelle, nichts ist zu hören, es sei denn hie und da das einsame Zirpen früher Grillen. So sehen die Orte aus, an denen in Krimis Morde passieren.
»Markus Studer, Internationale Transporte« steht quer über dem Kühlergrill, Schneeweiß auf Blutrot. Der Chromstahl des Aufliegers ist auf Hochglanz poliert, das ist selbst im Dunkeln erkennbar. Markus sagt: »Unter uns Truckern sagt man sich du.« Ich bin gerührt, dass er mich gleich mit in seinen Kreis aufnimmt, und sage, auch ich heiße Markus. Schön. Dann schreitet er auf seinen Mercedes zu wie auf eine Geliebte, die er kurz zuvor verlassen hat und die wiederzusehen er kaum erwarten kann. Noch aus dem Schwung der Bewegung heraus tritt er mit dem Fuß gegen einen der Reifen, geht von Rad zu Rad, und weiter von Detail zu Detail, auf allen vier Seiten: »Man weiß nie, ob noch alles dran ist. Die Heckleuchten, die Spiegel. Der Reifen sah etwas platt aus von Weitem, aber es scheint nichts geklaut worden zu sein, alles okay.«
Weil er am Freitag noch im französischen Zentralmassiv unterwegs gewesen und dann abends um zehn an den Schweizer Ruhezeitbestimmungen hängen geblieben war, wie Unkraut in einem Rechen, musste Markus am Samstag per Bahn von Lugano heim nach Zürich fahren. Jetzt drückt er auf den elektronischen Schlüsselhalter. Die Geliebte, die nun mich neben ihm zu dulden hat, begrüßt uns mit einem Klicken und einem Blinzeln der geröteten Augen ihrer Blinklichtanlage. Augenblicklich ist das riesige, ruhende Wesen hellwach und heißt uns mit offenen Türen willkommen. Der Fußboden der Kabine liegt etwa auf Augenhöhe, und der Weg von draußen nach drinnen führt über eine senkrechte fünfsprossige Leiter. Der Türgriff liegt nur wenige Zentimeter über der Türschwelle, die liegt allerdings so hoch über dem Rad, dass ich mich zum Öffnen strecken muss wie ein Kind an der Haustür. Ich suche an der senkrechten Treppe Halt für Hände und Füße, irgendwie kriege ich im Dunkeln den Schlafsack aus der Tasche, schlüpfe aus den Hosen und hinein in die Pritsche, die mir so eng vorkommt wie ein Schuh.
Montag
Lugano – Genua – Lugano
Warum wir schon bei der ersten Dämmerung aufstehen müssen, begreife ich erst allmählich im Laufe der Woche. Das tückische Regelwerk, dem das Gewerbe der Fahrenden Genüge tun muss, verlangt es so, das weiß ich irgendwie aus den Medien. Aber warum Markus sich keine Privilegien gönnt, lässt sich nirgends nachlesen. Vier Jahre ist es her, seit er umsattelte, sich auf dem Höhepunkt seiner Medizinkarriere eine Zugmaschine kaufte und mit einem Auflieger kreuz und quer durch Europa zu ziehen begann. Warum? Auf mich wirkt es, als hätte er das schon immer gemacht. Während er auf der kleinen Stehfläche zwischen den Sitzen den Hosengurt festzurrt, werfe ich einen Blick auf die Szene rundum.
Das fast mediterrane Tessiner Morgenlicht verzaubert das Grau in Grau der Lagerhallen und Lastwagenparkplätze